Das Buch deines Lebens – In einem anderen Reich
„Ist das Eden?“, fragte Toni, als sie mit ihm durch das herrliche Tor schritt.
„Weißt du denn wo Eden liegt?“, fragte Jeschua lächelnd, der sie sicheren Schrittes nach drüben geleitete.
„Es wurde den Menschen einst als Paradies vorgestellt“, antwortete Toni prompt.
„Es gibt diesen Ort“, antwortete Jeschua, „Glaube ist der Schlüssel. Und den kannst du dir jetzt wie einen wirklichen Schlüssel umhängen. Dann wirst du immer wieder hierhin kommen können.“
„Schön ist es hier“, entfuhr es Toni, als sie sich umblickte.
War das der Schlüssel, den sie durch all die Gewalt und Macht der anderen verloren hatte und den ihr Jeschua jetzt wiedergeben würde? Aber warum nur? Einfach nur, weil er sie so sah wie sie war? Unvollkommen und zerschmettert, allein gelassen und verlassen?
„Du kannst so oft kommen wie du möchtest“, sagte Jeschua noch, ehe Toni etwas packte, das wie eine Welle innerer Glückseligkeit war.
Sie kam an. Sie fühlte es in jeder Zelle bis in ihre Knochen hinein. Sie kam dort an, wohin sie sich immer gewünscht hatte.
Schon die erste Begegnung ließ Toni alles vergessen, was jemals gewesen war.
„Ich bin Alisha“, stellte sich das Mädchen vor, das am Eingang des Hauses stand und auf Toni geradezu gewartet zu haben schien. „Komm, ich zeige dir alles.“
Toni löste sich mit einem Nicken von Jeschua und tauchte in etwas ein, das sie keinem Menschen je hätte beschreiben können. Sie liefen über einen Vorplatz hinein in ein riesiges, strahlendes Anwesen. Dort führte das Mädchen Toni an einen großen Tisch und da erst wurde Toni klar, wie groß ihr Hunger nach all dem hier gewesen war.
„Iss“, lächelte ihr Jeschua zu, noch ehe sich Toni an die Tafel gesetzt hatte und zuschlug.
Diesmal anders, als sie es gewohnt gewesen war. Von allem nahm sie sich, wonach ihr Herz verlangte, hintereinander probierte sie all die herrlichen Köstlichkeiten aus.
„Schau“, sagte Alisha schließlich und machte Toni auf das Namensschildchen aufmerksam. „Dieser Platz ist immer für dich reserviert gewesen. Wir haben nur auf dich gewartet.“
„Auf was gewartet?“, fragte Toni und griff nach einer Mango.
„Dass du kommst und deinen Platz einnimmst. Denn dieser Platz hier ist nur für dich. Niemand außer du kann ihn einnehmen. Niemand als nur du darf hier sitzen. Und niemand kann dir deinen Platz hier je streitig machen. Niemand.“
„Danke“, flüsterte Toni.
Alisha nickte und lächelte sie an.
„Es ist genug da. Für uns alle. Und später können wir entweder zu den anderen raus in den Garten gehen oder ich zeige dir dein Zimmer.“
„Ich habe ein Zimmer hier?“, fragte Toni erstaunt.
„Jeder hat hier sein eigenes Zimmer“, erwiderte Alisha und strahlte Toni an, „sogar mit einem eigenen Bett.“
Unwillkürlich musste Toni das Lächeln des Mädchens erwidern. Fremd kam Toni das Mädchen irgendwie nicht vor, so wie all das nicht, was hier um sie herum war. In was sie war. Und in was sie sich so unbeschreiblich wohl fühlte.
„Du kannst immer herkommen, so wie es dir Jeschua wohl schon gesagt hat, oder?“, fragte Alisha.
Toni nickte.
„Und warum bist du hier?“, fragte Toni und blickte Alisha aufmerksam an.
„Meine Eltern haben mich fort gegeben“, antwortete das Mädchen.
„Oh“, entfuhr es Toni, „das tut mir leid.“
„Das macht nichts“, erwiderte Alisha, „denn ich bin ja jetzt hier, und woanders möchte ich eigentlich auch gar nicht mehr sein.“
Wieder nickte Toni.
„Ich würde jetzt gerne mein Zimmer sehen“, erklärte Toni, nachdem sie sich satt gegessen hatte.
Alisha stand auf und lief voran, hinaus und durch einen Garten hindurch mitten auf ein Schloss zu. Dort durchquerten sie eine riesige goldene Halle, in der viele Bilder von ihnen allen an den Wänden hingen. Übermütig sprang Alisha die Treppen hinauf und machte vor einer Tür Halt.
„Das ist mein Zimmer, und direkt neben dran ist deins“, erklärte sie Toni und machte einen weiteren Schritt auf eine Tür zu, die Toni mit Spannung betrachtete.
Als sie hereintraten, war Toni überwältigt von dem hellen Glanz der Dinge, die dort waren. Auf dem Tisch neben dem Bett lag ein Buch.
„Hier kannst du alles reinschreiben, was dir wichtig ist“, sagte Alisha und lief neben Toni auf den Schreibtisch zu.
„Du kannst es öffnen“, nickte ihr Alisha aufmunternd zu.
Beherzt schlug Toni den Umschlag auf und war erstaunt, als sie Fotos von sich sah, von Geburt an.
„Das bist du“, lachte Alisha frei heraus.
„Und was bedeuten die weißen Seiten ganz hinten?“, fragte Toni ehrfurchtvoll.
„Die kannst du mit Jeschuas Vater noch füllen, obwohl der schon einen Plan für dich und dein Leben hat. Aber es bleibt alles deine freie Entscheidung. Es ist nur ein Vorschlag, wie es sein könnte“, lächelte Alisha.
Ermattet von allem, was Toni bis hierhin erlebt hatte, nahm sie an ihrem eigenen Tisch Platz und blätterte das Buch durch.
„Es ist wunderschön“, flüsterte sie, als sie am Ende angekommen war und Alisha anblickte, die sie anstrahlte.
„Ja, einzigartig. Das ist deine Geschichte, so wie sie der Vater für dich vorgesehen hat. Und nun komm, ich möchte dich den anderen vorstellen.“
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern folgte Toni dem Mädchen und lief die Treppen neben Alisha lachend herunter, durch die goldene Halle hindurch und hinaus in den Garten, wo die anderen Fußball spielten.
„Ich liebe Fußball“, schrie Toni noch, ehe sie sich in das Getümmel warf und den Ball souverän kickte.
Wie viele Tore sie gemacht hatte, konnte sie abends nicht mehr sagen, als sie mit den anderen Kindern in den großen Pool sprang und sich abkühlte. Erst da fiel Toni auf, dass sie alle unterschiedliche Hautfarben hatten und auch nicht gleich alt waren. Aber hier waren sie alle Kinder.
„Gibt es noch andere hier?“, fragte Toni einen Jungen, der gerade neben ihr aufgetaucht war.
„Ja“, lächelte der Junge, „je nachdem was sie möchten und wer sie sind spielen sie an unterschiedlichen Orten“, antwortete er und lächelte Toni an, die sein Lächeln erwiderte.
Der Junge war sehr hübsch. Und nett.
„Wie heißt du?“, fragte Toni.
„Ramon“, entgegnete er.
„Und warum bist du hier?“, fragte sie.
„Weil mein Vater unkontrolliert ausholt und unter schrecklichen Wutausbrüchen leidet“, antwortete er.
„Wie bei mir“, jubilierte Toni, ehe sie sich besann, dass das ja eigentlich ein sehr trauriger Umstand war.
„Ach was“, antwortete Ramon, als hätte er ihre Gedanken gelesen, „wer hier ist, der trägt kein Leid mehr, denn das hat uns Jeschua alles schon abgenommen, als wir mit ihm durch dieses Tor gegangen sind. Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich hier sein kann. Wollen wir morgen zusammen Tennis spielen?“, fragte er und musterte Toni mit einem verschmitzten Grinsen auf dem Gesicht.
„Wenn du es mir beibringst“, entgegnete Toni keck und freute sich, dass sie auch morgen wieder hier sein würde.
„Toni“, hörte sie plötzlich, als sie auch schon Jeschua am Poolrand erblickte, „du musst zurück“, sagte er und hielt ihr ein Handtuch hin.
„Warum?“, fragte Toni und blickte ein letztes Mal auf Ramon, der ihr zurief: „Morgen, ich warte hier auf dich.“
„Toni“, streckte Jeschua die Hand nach ihr aus, um ihr herauszuhelfen, „es gibt eine Zeit, die du hier bist und eine Zeit, die du dort unten lebst. Noch ist deine Zeit ganz für hier nicht gekommen, verstehst du das?“
Toni, die die vergangene Zeit überhaupt nicht einordnen konnte, ließ sich von Jeschua hochziehen und unterdrückte den Impuls, gegen sein Schienbein zu treten.
„Warum?“, schmetterte sie ihm entgegen. „Warum muss ich wieder gehen?“, schrie sie ihn mit aller verbliebenen Kraft an, die sie noch in sich hatte, ganz das wütende und abgelehnte Mädchen, als das sie sich immer noch fühlte.
Sofort nahm Jeschua sie in seine Arme und noch in derselben Sekunde beruhigte sich Toni.
„Hast du denn dein Buch schon gefunden?“, fragte Jeschua, „das Buch auf deinem Schreibtisch?“
Toni nickte, allerdings unter Tränen. Sie konnte das alles nicht fassen. Dass es hier oben so viel Gutes gab und dort unten, wie ihr schien, so viel Schreckliches.
„In deinem Buch hier oben steht dein Leben geschrieben“, erklärte auch Jeschua. „Das Leben, das wir für dich auf der Erde nur für dich ausgesucht haben. Und ist das denn nicht schön? Möchtest du das denn nicht alles noch erleben? Und diese Kinder kennenlernen, die deine Freunde werden könnten? Du kannst doch jederzeit zu uns kommen“, beruhigte Jeschua Toni, der ihren Kummer fühlte.
„Okay“, schluchzte Toni und wischte sich die Tränen von ihrem Gesicht, „aber du musst mir versprechen, dass ich morgen wieder hier sein darf, Ramon will mir Tennis beibringen“, grinste sie.
„Versprochen“, flüsterte Jeschua und drückte Toni fest an sein Herz.
Dann brachte er Toni an das Tor, durch das sie mit ihm getreten war, nachdem sie zugestimmt hatte, mit ihm gehen zu wollen. Wohin auch immer.
„Schlüssel“, lachte er zum Abschied.
„Schlüssel“, erwiderte Toni sein Lachen.
„Du bist uns immer willkommen“, sagte Jeschua und küsste sie auf die Stirn.
Intuitiv fasste sie ihn bei der Hand.
„Danke“, sagte Toni und küsste Jeschua auf die Wange. „Danke für alles. Ich hoffe, ich vergesse das alles hier nicht“, lächelte sie.
„Wir werden dich daran erinnern“, erwiderte Jeschua ihr Lächeln und drückte fest ihre Hand. „Wir sind immer bei dir“, flüsterte er und sah zu, wie Toni tapfer durch das Tor trat.
Instinktiv hatte sie aufgenommen, wer sie war. Ohne dass ihr das hätte irgendjemand eintrichtern oder einprügeln müssen.