
Streifen der Zerrissenheit – Sommerröte
Ohne es zu wollen, blickte Ceija auf die Wundmale des Mannes, der am Kreuz hing. Er war aus Holz und sah nicht gut aus. Eigentlich hatte sie sich nur eine kleine Auszeit von dem Geräuschpegel im Zelt, nehmen wollen den sie nicht gewohnt war. So viele Menschen, so viele Kinder auf engstem Raum. Es war Jesus, von dem ihr ihre Großmutter erzählt hatte. Normalerweise erzählten Großmütter Märchen oder Geschichten. Aber irgendwie spielte diese Figur hier am Kreuz eine Rolle in ihrer Familie. Der Großvater hatte einen Rosenkranz gehabt, den er jeden Tag zwischen seinen Fingern gerollt und dabei komische Dinge gesagt hatte. Eigentlich waren das furchteinflößende Dinge von Gericht und Feuer gewesen. Jedenfalls verband Ceija keine guten Erinnerungen an diesen Mann dort oben am Kreuz. Doch die Ruhe an diesem Ort betörte sie. Es war eine Stille, die ihr insgeheim guttat. Fernab all der anderen, fernab all ihrer Probleme und Habseligkeiten. Es war kalt hier. Keine Heizung. Unter dem Kreuz stand ein Becken, in dem sie sich gerne gewaschen hätte. Womit sie nicht den Schmutz ihres Körpers meinte. Den hatte sie morgens in den großzügig geschnittenen Duschen abspülen können. Sie meinte einen Schmutz, der auf ihrer Seele lag. Den Schmutz einer Verstoßenen, eines Mädchens, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Das vor Männern geflohen war, die es verkauft hätten. Ceijas Körper. Nicht ihre Seele. Aber die war genauso schmutzig, wie ihr Körper am Morgen, wenn sie aufstand und versuchte, es allen recht zu machen. Der Familie. Komischer Begriff, durchzuckte es sie. Zu arm, um zu leben, zu schwach, um zu sterben. Und mittendrin Nedjo, nicht viel älter als sie und als männliches Mitglied der Familie dso viel angesehener. Warum eigentlich, fragte sich Ceija mit Blick auf den Mann mit dem zur Seite geneigten Kopf, der Leiden ausdrückte. Ihr Leid war das jedenfalls nicht, dachte Ceija, denn was wusste diese Holzfigur schon davon? Am falschen Ort im falschen Körper geboren zu sein. Nichts zu sein. Geboren zu sein, um die Bedürfnisse anderer zu erfüllen. Es fröstelte sie, wenn sie zurück an ihre Kindheit dachte. Schule – warum? Wünsche – wozu? Bedürfnisse – nie die ihren. Eine grande miseria von Anfang an. Und wozu das alles? Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als Tim hereintrat. Mit jugendlicher Kraft, männlicher Stärke und gottgeweihter Autorität trat er auf sie zu.
„Ceija“, lächelte er, „suchst du auch die Stille?“, fragte er und trat näher.
Die Schatten unter ihren Augen waren ihm schon aufgefallen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Ceija blickte zu Boden. Kälte schlug ihr entgegen. Der Hass einer gesamten Gesellschaft schlug ihr im Innersten ihres Erlebens entgegen, während Tim ihre Zurückhaltung fast ins Gesicht schoss. Wer hier ankam, hatte nichts mehr. Egal woher sie kamen und wer sie in ihren Leben zuvor gewesen waren, hier waren sie niemand mehr. Was sie zurückgelassen hatten, ihre Heimat, Häuser, gut bezahlte Jobs, Autos, Familien, hier zählte das alles nichts mehr. Hier waren sie nichts als Menschen, mit nichts als ihren Kleidern am Leib. Und Ceija gehörte ganz eindeutig dazu.
„Warum bist du hierhin gekommen?“, fragte Tim und stellte sich neben sie.
Ceija wagte nicht, aufzuschauen. Sie wusste um ihre Vorbehalte Deutschen gegenüber, anderen Menschen gegenüber, sogar ihren Landsleuten gegenüber. Es kam ihr wie Verrat vor, hier unter dem Kreuz, das sie nicht verstand. Was sollte sie ihm antworten? Wie weit sich einem Mann gegenüber ausziehen, den sie nicht kannte, dessen Kultur sie nicht verstand und von dem sie eigentlich nichts wissen wollte?
Nur ein Begriff kam ihr in den Sinn, über den sie nie nachgedacht hatte, solange Nedjo für alles gesorgt hatte.
„Menschenhandel“, sagte sie schließlich, der Einfachheit halber.
Tim nickte.
Das war das Milliardengeschäft des 21. Jahrhunderts. Das stellte selbst den guten alten Drogenhandel in den Schatten. Kein Wunder bei Ceija, die diese schlichte Schönheit menschlicher Weiblichkeit verkörperte. Ein sinnlicher Mund, dunkle, große Augen, gerade Wangen, ein Körper wie maßgeschneidert, schlank durch Armut, unterwürfig mangels Bildung, schwach per Geschlecht.
„Hat Nedjo dich hierher gebracht?“, fragte Tim.
In den Turnhosen sah sie fast lächerlich aus. Aber er konnte sich vorstellen, wie sie in einem gutsitzenden Kleid aussehen würde. Makellos. Es sei denn, sie beherbergte ebenso viele körperliche Narben wie die meisten von denen, die ihre Reise nach Deutschland nicht ohne Verluste überstanden hatten.
Ceija zeigte ihm ihre Narben nicht. Die Narben ihrer Familie, die Narben ihrer Flucht, die Streifen ihrer eigenen Zerrissenheit und jemand zu sein, der sofort abgelehnt wurde, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte. ‚Hallo‘ ging auch nicht, darüber waren sie schon hinweg.
„Nein“, murmelte sie.
„Du?“, fragte Tim.
Es erschütterte sie. Sie waren nur hier, weil Nedjo eine Frau zusammengeschlagen hatte. Das würde sie ihm jetzt wohl eher nicht unter die Nase reiben.
„Waren sie hinter dir her?“, versuchte es Tim erneut.
Wollte er es ihr leicht machen, fragte sich Ceija.
„Wir mussten gehen“, antwortete sie knapp und blickte Tim von der Seite an.
Er war im richtigen Land geboren, sie nicht.
„Okay“, lächelte Tim, „ich lasse dich in Ruhe. Aber du sollst wissen, ich bin immer für dich da.“
Ceija nickte und blickte wieder zu Boden. Wenn es drauf ankam, war nie jemand für sie da gewesen. Welchen Unterschied sollte da dieser Pastor machen?
Als Tim gegangen war, setzte sich Ceija in eine Bankreihe und dachte nach. Was erwartete sie? Eigentlich nichts. Sie erwartete gar nichts. Nur Ruhe. Die sie hier fand. Erst einmal würde sie Deutsch lernen. Und dann würde sie allen erzählen, wie es bei ihr zu Hause wirklich gewesen war.