Ich bin anders – In einem anderen Reich
„Gewalt ist eine Antwort … auf erlittene Ungerechtigkeit.“ Toni Guard
Reglos stand das Mädchen vor der Müllkippe. Mit geschlossenen Augen nahm es den Geruch von Abfall, Verwesung und Eisen wahr. Wie ein Brechmittel kam ihr das vor. Doch Toni wollte nicht brechen. Nicht, nachdem sie in der Nacht zusammengebrochen und in der Früh wieder aufgestanden war. Alles war ruhig gewesen. Nur die Vögelchen hatten gezwitschert, was Toni wie der Klang von Freiheit vorkommen war. Schwerelos und leicht. Dann hatte sie eine Melodie nach draußen gerufen. Mit einem starkem Verlangen nach irgendetwas war sie vor die Tür getreten und hatte ihren Weg begonnen, ohne zu wissen, wohin dieser sie führen würde. Schule fand Toni nicht wirklich gut. Und auch sonst gab es wenig, was ihr wirklich Freude bereitete. Eher schien ihr alles trostlos, in und um sie herum. Alles was sie wollte war raus aus ihrer Situation zu kommen. Die ihr aussichtslos vorkam.
Als Toni oben auf dem Müllhügel angekommen war, strich ein Windhauch fast liebevoll durch ihre langen Haare. Toni besaß keine Sonnenbrille, sodass die gleißend hellen Lichtstrahlen auf ihre Augen trafen und fast eine Explosion auslöst hätten. Für einen Augenblick sah Toni nichts als nur Schwarz. Dann kam das Licht, heller und strahlender als alles, was das Kind jemals wahrgenommen hatte. Plötzlich legte sich der leichte Wind und wurde alles still. Gespenstig still. Da war gar nichts mehr. Kein Geräusch, keine Brise und auch kein Laut. Und dann stand er vor ihr, der junge Mann, der Toni mitten in die Augen sah, als habe er ihre Augen soeben geöffnet. Für etwas anderes, als es Toni bislang gewohnt gewesen war.
„Was machst du hier?“, fragte der Mann und blickte das Kind ruhig an.
Toni starrte zurück. Minutenlang schwiegen sie. Toni hatte keine Lust mehr, sich zu erklären oder irgend jemandem zu antworten. Egal was sie sagte, sie erntete nur Hohn und Gelächter. Gestern Abend hatte sie sogar richtig eins abbekommen. Von ihrem eigenen Vater. Einfach nur, weil sie im Weg gestanden hatte. Mit einem Schlag war sie weggefegt worden. Und jetzt hoffte Toni, würde sie der Wind wegfegen. Einfach nur wegfegen. So lange, bis sie gar nichts mehr fühlen würde. Weder sich selbst noch die anderen. Weder ihr eigenes Leben noch das der anderen.
„Hast du keine Freunde?“, fragte der Mann sanft. Toni blickte ihn ausdruckslos an und schüttelte den Kopf.
„Ich habe keine Freunde“, bestätigte sie schließlich.
„Findest du keine?“, fragte der junge Mann, der Toni etwas zu fröhlich vorkam.
„Ich bin immer ausgeschlossen und alle finden mich doof“, entfuhr es Toni ungewollt ehrlich.
„Bist du dir denn selbst ein guter Freund?“, fragte der Mann.
„Nein, ich kann es nicht mehr“, flüsterte Toni.
„Darf ich dein Freund sein?“, fragte der Mann sanft und blickte Toni an.
„Ja“, flüsterte sie, denn im Grunde hatte sie nichts mehr zu verlieren.
Ihr Leben war ihr schon lange abhandengekommen.
„Ich heiße Jeschua, Jeschua Noun“, stellte sich der Mann vor und streckte Toni seine Hand hin.
„Toni, Toni Guard“, entgegnete sie und erwiderte seinen festen Händedruck.
Wenn dieser Mann sie kennenlernen wollte, würde sie sich ihm nicht in den Weg stellen, zumal der Mann eher Toni im Weg stand.
„Komm“, sagte der hell scheinende Mann, „wir gehen woanders hin, dorthin wo dich niemand kennt. Möchtest du?“, fragte er und blickte Toni an.
„Ja“, antwortete sie ruhig, obwohl sie wusste, dass sie nicht mit Fremden mitgehen durfte.
Doch irgendwie gab es in Tonis Leben zu viel, was sie nicht tun durfte, sodass sie schon den ersten Schritt tat, fast ohne nachzudenken.
Mit einem Mal, den Toni diesen Weg begonnen hatte, überkam sie das Gefühl, fliegen zu können. Doch schon kurz darauf fühlte sie wieder Boden unter ihren Füßen, als sie in einem Garten angekommen waren. In einem atemberaubend schönen Garten. Einem Garten mit einem plätschernden Brunnen und herrlichen Blumen, deren Duft Toni tief einsog. Das Vogelgezwitscher dort schien wie endlose Musik, die sie beruhigte und all das in ihr zu sortieren schien, was durch die Prügel, die sie regelmäßig bezog, durcheinander gerüttelt worden war.
„Wie geht es dir?“, fragte Jeschua und führte Toni an der Hand weiter über eine Wiese, die so weich war, dass sie am liebsten die alten Schuhe weit von sich geschleudert hätte.
Die passten ihr schon lange nicht mehr und gefallen taten sie ihr auch nicht.
„Jeschua“, platzte es plötzlich aus Toni heraus, „ich fühle mich schrecklich, schrecklich einsam. Niemand versteht mich, niemand ist für mich da und alle lachen über mich.“
„Warum?“, fragte Jeschua und setzte sich mit Toni ins Gras.
„Vielleicht weil ich einfach anders als die anderen bin“, flüsterte Toni und wurde ganz bleich.
So offen war das Kind schon lange nicht mehr gewesen.
„Und warum fühlst du dich so anders?“, fragte Jeschua und strich ihr zärtlich über den Rücken.
Niemand hatte sie in letzter Zeit so sanft berührt. Und niemand hatte sie gefragt, was in ihr eigentlich alles so vorging. Niemand hatte sich Zeit für sie genommen. Offenkundig schien sie das auch nicht wert zu sein, denn sonst hätte sich doch jemand mit ihr so beschäftigt, wie es der junge Mann gerade tat.
„Beschreib‘ mir doch mal dein Gefühl von Einsamkeit“, entgegnete Jeschua und blickte sie ruhig an.
Solch eine Ruhe hatte sie schon lange nicht mehr empfunden. Toni überlegte lange. Sie fand keine Worte dafür. Nach einer Weile sagte sie: „Es ist einfach immer alles Schwarz. In mir und um mich herum. Als sei es immer Nacht und könnte ich nach all dem, was um mich herum ist, gar nicht mehr greifen. Als gebe es eine Scheibe zwischen mir und den anderen. Vielleicht“, fuhr Toni leise fort, „ist es sogar so, dass ich in einem Gefängnis bin, in einem Keller, aus dem ich einfach nicht mehr herausfinde, als hätte ich den Schlüssel verloren“, murmelte sie und blickte Jeschua fragend an.
„Wann hast du denn den Schlüssel zu deinem Leben verloren?“, fragte er ruhig.
Toni atmete ein paar Mal kräftig ein und wieder aus. Etwas lag auf ihrer Brust. Wie lange schon konnte sie nicht sagen. Sie verstand auch nicht richtig, was sie mit ‚Schlüssel‘ eigentlich meinte. Sie hatte einen für zu Hause, der um ihren Hals hing. Den hatte sie öfter schon verloren und jedes Mal eine mächtige Tracht Prügel dafür bezogen. Mal ganz abgesehen von dem Geschrei, das den Prügeln vorausgegangen war. Und dann war sie in ihr Zimmer gesperrt worden. Allein und verlassen, so hatte sie sich gefühlt. Einsam eben. Sollte sie ihm also erzählen, dass sie verprügelt wurde? Und waren diese Prügel eigentlich das Schlimmste? Wenn sie ganz ehrlich war, fühlte sie die kaum noch. Aber auch die Worte, die sie ihr entgegen schmetterten fühlten sich wie Prügel an, genauso wie das Gelächter, wenn Toni irgendetwas sagte oder tat. Darum kam sie sich vielleicht so anders vor. Wie in einem Kreislauf gefangen, aus dem sie eben nicht mehr herausfand. Dann tat sie wohl Dinge, die die anderen provozierten. Oder sie war einfach so, dass die anderen meinten, sie dürften auf sie einschlagen oder zutreten. Auch mit ihren Worten, von denen sich Toni oft genug wie vernichtet fühlte. Niedergedrückt, als könne sie gar nicht mehr aufstehen.
„Ich fühle mich ungeschützt“, entfuhr es Toni plötzlich, „wie nackt.“
Jeschua nickte und drückte fest ihre Hand. Alles an ihm drückte ehrliche Anteilnahme aus, auch sein Blick. Fast war ihr, als hätte er das auch schon erlebt.
„Ist dir das auch schon mal so gegangen?“, fragte Toni schließlich und blickte ihm mitten in die Augen.
„Ja“, nickte Jeschua und legte ihre Hand auf seine Brust.
„Fühlst du meinen Herzschlag?“, fragte er.
Sie sah ihn weiter an und nickte ebenfalls.
„Ich kann ihn fühlen“, erwiderte sie.
Irgendwie kam es ihr so vor, als wäre es angenehm, einen anderen Menschen zu fühlen.
„Mein Herz schlägt für dich“, flüsterte er.
Nach seinen Worten durchzog das Mädchen ein wohliges Gefühl. Hatte sie endlich jemanden gefunden, dem sie wirklich am Herzen lag oder spielte er ihr auch nur etwas vor, um sie dann nach Strich und Faden fertig zu machen? Würde auch er sie antasten und im schlimmsten Fall ausziehen, wie es ihr auch schon geschehen war?
„Fühlst du dich angetastet?“, fragte Jeschua, als hätte er in ihren Gedanken gelesen wie in einem offenen Buch.
Kannte er ihr Innerstes, weil er das auch schon alles erlebt hatte, fragte sie sich insgeheim.
„Wer tastet dich an?“, hörte sie Jeschuas Worte.
Toni fühlte, wie sie zu zittern begann. Stand sie vor dem größten Verrat ihres Lebens? Und würde sie den dann überhaupt noch überleben?
„Es ist wie eine unsichtbare Hand, die sich auf mich gelegt hat“, flüsterte Toni und spürte wie ihr Herz wild zu pochen begann.
Wieder schien diese Angst in ihr hochzukommen, die sie so oft und so lange schon zu unterdrücken versucht hatte. Toni wusste nicht, was sie tun sollte, um den Schmerz zu lindern, sodass sie ihrerseits nach seiner Hand griff und auf ihr Herz legte.
„Fühlst du meine Angst?“, fragte sie, als ihr schwindelig wurde.
Dann spürte Toni, wie seine Hand eine Beruhigung ausstrahlte, die durch ihren gesamten Körper floss.
„Du kannst mich rufen“, sagte Jeschua, „bei Tag und bei Nacht, dann werde ich kommen, lautlos. Und ich werde meine Hand auf dein Herz legen und das wird dich beruhigen“, nickte er er ihr ruhig zu.
Atemlos war Toni seinen Worten gefolgt. Wie konnte das sein?