In der Kathedrale des Feierns – Winterfachen
Es war ein feuchter Donnerstag, der die Haare mancher Damen nicht nur ob der inneren Temperaturen kräuseln ließ, sondern auch dem Regen draußen geschuldet war. Zumindest, so nahm Nourina mit dem ersten Blick über all die Feiernden an der riesigen Bar wahr, war sie nicht die einzige Vertreterin ihres Alters. Andere um ihr Geburtsjahr herum mussten sich ähnlich fühlen wie sie, denn jene tranken oder tanzten nicht nur in Paaren, sondern gerne auch als das Individuum, als das sich Nourina als Single jetzt auch wieder betrachten musste. Und das nicht zuletzt in den zahlreichen Spiegeln, die die meterhohen Wände dekorierten. Als beteten unbekannte Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe und womöglich jeder Religion sich selbst an. Etwas, auf das Nourina an diesem Abend nur allzu gerne verzichtet hätte. Allerdings nur so lange, bis ihr jemand den Hof machte, der sie ungemütlich an jenen Kumpel ihrer ehemaligen „Internierungszeit“ erinnerte: Dem Mann, der sich ihr, dem jungen und noch zu erblühen zu gedenkendem Mädchen genähert hatte. Dessen Absichten, das hatte Nourina damals nur unter Tränen verstanden, nie aber wirklich an sich heranlassen wollen, waren eher nicht einem biblischen „erkennen“ geschuldet gewesen. Seither fragte sich Nourina, ob sie dem männlichen Geschlecht, das sich ihr mal auf die ein und mal auf die andere Weise genähert hatte, etwas schuldig geblieben war. Und zwar ihre Unschuld. Doch schon machte sich der Fremde an sie heran, um ihr goldenes Kleid zu bewundern, das einer anderen Epoche angehörte, was Nourina in dem Nebel, der gerade von der Tanzfläche über sie hinweg wehte, gerade noch erkennen konnte.
„Sie sind allein hier?“, fragte der Fremde, der für ihren Geschmack ein wenig zu nah an ihr Gesicht herangetreten war.
„Ich bin allein hier“, lächelte Nourina unsicher und schob sich auf dem Barhocker zurecht.
Der Mann nickte selbstversunken.
„Ich auch“, murmelte er und ließ seinen Blick über die Tanzfläche schweifen, als suche er jemanden, was umgehend Nourinas Konkurrenzdenken auf den Plan brachte.
Ihren eigenen Plan, es sowohl Thorsten wie Dominik, die sie beide als Partnerin verworfen hatten, zu zeigen. Wer sie war. Und was sie alles konnte. Auch ohne, dass jene sie gut fanden. Sie jedenfalls fand sich super in dem enganliegenden Kleid, auch wenn es ihr fast wie ein Korsett den Atem abschnürte.
„Darf ich Sie auf einen Drink einladen?“, fragte der Mann, der sich ihr wieder zuwandte und nichts anderes als sie war: Ein nicht geladener Gast auf einer Party, die erst noch richtig steigen sollte. Schließlich war es noch vor Mitternacht.
Nourina musterte den unbekannten Gast, der aus freien Stücken hier aufgetaucht war, wie ehemals ihre Ruder-Konkurrenten von oben bis unten und entschied dann, er sei es wert, in eine Konversation einzusteigen.
„Einen Gin Tonic bitte“, lächelte sie, denn dieses Getränk kannte sie von damals und wusste, dass sie am nächsten Morgen keine Kopfschmerzen zu befürchten hatte.
Der Mann etwa in ihrem Alter drehte sich zum Barkeeper und schrie ihm das Erbetene angesichts der lauten Musik geradezu entgegen. Offenkundig war er es gewohnt, seiner Bitte selbst aus solch einer Entfernung mit Nachdruck Ausdruck zu verleihen, was ihn ebenso wie seine gut gebaute Statur und Habitude als Alphamännchen in Nourinas Augen auszeichnete. Mit denen war sie groß geworden, einen solchen hatte sie geehelicht und jemanden wie ihn fand sie auch als nicht zu klein für ihre Würde, gerade nach den beiden bitteren Rückschlägen der vergangenen Männer, als möglichen Gesprächspartner zu akzeptieren. Schließlich ging es ihr vor aller Augen um ihre Würde als schöne Frau, auf was sich Nourina zeitlebens verlassen hatte. Und auf nichts anderes ging der fremde Mann ein, der sich seiner Ausstrahlung auf das andere Geschlecht ebenfalls bewusst war. Groß, smart, gut gebaut und dazu auch noch muskulös. Seine strahlend blauen Augen, um die sich ein paar sanfte Fältchen schwangen, blickten sie herausfordernd an, als er Nourina das Glas hinhielt, das sie bereitwillig entgegennahm. Ganz Grande Dame, als die ihre Mutter sie erzogen hatte. Sei unnahbar und cool, hatten ihr ihre ehemaligen Freundinnen damals noch mit auf den Weg gegeben, dann finden dich die Männer super.
„Schönes Kleid“, befand der Fremde und prostete ihr kühl zu.
Nourina verstand den Wink, lächelte ihm formvollendet zu und fragte lapidar: „Und? Was machen Sie so, wenn Sie hier nicht gerade mit jemandem einen Drink nehmen?“
Der Fremde blickte sie nahezu ergeben an, nahm einen kräftigen Schluck, setzte sein Glas wirkungsvoll lässig auf dem Tresen ab und blickte ihr tief in die Augen. So tief, dass Nourina augenblicklich schwindelig wurde. Um sich keine Blöße zu geben, nahm sie ebenfalls einen ordentlichen Schluck und versuchte, seinem Blick nicht auszuweichen. Das brachte nun seinen Stolz auf den Plan, denn er suchte sich notorisch nur Frauen aus, die es verstanden, ihm Paroli zu bieten. Und das nicht zuletzt in Blicken. Damit schon hatte Nourina gewonnen, was sie verstand und ihr Glas infolgedessen graziös auf dem Tresen platzierte.
„Ich entspanne“, nickte ihr der Fremde seinerseits formvollendet zu, um ihr sodann die Hand zu reichen, nach der sie nicht gefragt hatte, als er sich auch schon vorstellte: „Clemens Seidler.“
Nourina setzte ihr liebenswürdiges Lächeln auf und schlug ein.
„Ich bin Nuni“, antwortete sie betont lässig.
Diesen Namen hatte Nourina von ihren Patentöchtern bekommen, und den fand sie für ein erstes Gespräch undurchdringlich genug. Denn so ganz wollte sie sich noch nicht auf sein Spiel einlassen, von dem sie vorwegnahm, dass er es allein auf eine einzige heiße Nacht mit ihr abgesehen hatte. Wie es wohl der Großteil derer tat, die hier feierten, als gebe es kein Morgen mehr.
Clemens fixierte sie mit seinem Blick, als versuche er, ihre Strategie zu enttarnen und fragte dann: „Wie kommt es, dass eine so schöne Frau ohne Begleitung ausgeht?“
Nourina verstand, dass ihm daran gelegen war, mehr über ihren Status zu erfahren, sodass sie selbstbewusst entgegnete: „Ich brauche nichts und niemanden.“
Der Herr ihr gegenüber wähnte ihre Replik als Aufforderung, weitere Anstrengungen desbezüglich, mehr darüber zu erfahren, wer sie war, einzustellen, woraufhin er umgehend eine Charmeoffensive startete, die Nourina etwas unvorbereitet traf, da sie sich schon zu lange nicht mehr ungewohnten Situationen ausgesetzt hatte.
„Möchten Sie tanzen?“, fragte er statt weiterer Avancen und schöner Worte ihr gegenüber.
Nourina überlegte einen kleinen, sehr vagen Augenblick. Zu kurz in seinen Augen, da jemand, der das Flirt-Alphabet beherrschte, nie so schnell auf sein Angebot eingegangen wäre, als er erneut nach ihrer Hand griff, diesmal um sie auf die nebelige Tanzfläche unmittelbar vor sich zu ziehen. Nourina konnte in dem Trubel nicht anders, als hell aufzulachen, denn sie hatte zu lange schon nicht mehr getanzt, sodass sie nicht mehr einordnen konnte, wie ihr geschah. Wenige Sekunden später sah sie sich einem Mann gegenüber, der nur Augen für sie zu haben schien. Der jenen Abend dort nur aufgetaucht war, um ihr genau ein Gefühl wiederzugeben, das Nourina während ihrer Ehe irgendwann entglitten war: begehrenswert zu sein. Um einen Preis, dem sich so viele dort mit so unendlich aufwendigen Verfahren näherten, den Nourina zuvor nicht hatte zahlen müssen. Weder während ihrer damaligen Internierungszeit, als sie einen Sieg nach dem anderen bei den unzähligen Wettkämpfen errungen hatte, noch während ihrer Ehe mit dem insgesamt doch sehr angesehenen Ehemann. Niemand hatte ihr diesen Platz je streitig gemacht, bis auf diese Clara eines Tages, was einem Fehler ihrerseits geschuldet gewesen sein musste: unfruchtbar zu sein. Und genau das wollte Nourina, die ehemals schöne Frau, möglichst nicht in ihr Bewusstsein dringen lassen, warum sie sich auf der bunt beleuchteten Tanzfläche in Bewegungen verbog, die ausgereicht hätten, um sie im Yogakurs als besonders gelenkig auszuzeichnen. Was dem Fremden nicht entging, als er sie schließlich zurück zur Bar schleifte und sie an das erinnerte, was sie ehemals am besten gekonnt hatte: Ein Glas nach dem anderen anzusetzen und dessen Inhalt in einem Zug herunterzukippen. Der Fremde tarnte es als lustiges Trinkspiel, das Nourina durchaus gewohnt war. Wie auch den Umstand, dass er ihr die Spielregeln nach seinen eigenen Plänen erläuterte. Ein Spiel, auf das sie schon als Jugendliche hereingefallen war: Wahrheit oder Pflicht. Ohne dass Nourina noch viel Zeit geblieben wäre, auch darüber nachzudenken, fiel sie in ihre ehemals alte Gewohnheit zurück und tat, was ihr vertraut war: Sie lachte, hob ihr Glas, schüttete den Inhalt herunter, suchte sich ein Thema aus, das ihr absurd genug vorkam, um ihr Gegenüber dazu zu verleiten, ebenfalls das Glas anzuheben und den Inhalt herunterzuschütten, bis sie es beide in einer solchen Einvernehmlichkeit taten, dass sie von einem Lachflash in den nächsten fielen, allerdings ohne den anderen ganz aus den Augen ihrer Kontrolle zu entlassen. Bis Nourina schließlich den Fehler machte, den sie noch mit Dominik zu vermeiden versucht hatte: sich umfassend gehen zu lassen. Für jemand Außenstehendes hätte es unter Umständen ausgesehen wie ein umfassendes Aufgeben.
„Ich heiße Nourina von Stetten und bin seit kurzem eine geschiedene Frau“, lallte sie dem Beau entgegen, der ihr erneut seine Hand reichte, nach der sie in ihrem Zustand jetzt nur allzu gerne griff.
„Das wird bei deiner Ausstrahlung wohl nicht lange so bleiben“, lächelte Clemens ihr betont vertraut entgegen, indem er sie duzte, woraufhin er für einen kurzen Augenblick gekonnt reglos blieb.
Genau den einen Moment, von dem der Womanizer wusste, als nächstes würde sie ihm ihr Gesicht entgegen neigen, bereit, „Alles oder Nichts“ zu spielen. Wie er es von anderen Frauen gewohnt war, senkte sie ihren Kopf, blickte auf ihre Schühchen, die dem Regen draußen noch widerstanden hatten, um sodann ihren Körper zu stecken, wie es Nourina vom Reiten gewohnt war, was ihn anhielt, ihre Hand zu streicheln, die sie ihm bereitwillig nicht entzog. Wieder stellte der Barkeeper einen Drink vor ihr ab, den sie wie eine Ertrinkende entgegennahm, da sie sich ihrer eigenen inneren Leere so stark bewusstwurde, dass selbst das stärkste Mittel nichts hätte gegen ihre aufkeimende innere Verzweiflung ausrichten können. Fortan ritt er auf ihrem Stolz herum, als sei das der Zaubertrank des 21. Jahrhunderts. Mit wohligen Worten umgarnte er sie und mit wohltuenden Körperlichkeiten bedankte sie sich bei ihm. Nicht anders hatte sie es damals getan, und nicht anders waren die anderen männlichen Geschlechts genau darauf eingegangen. Auf diese innere Leere, die Verzweiflung hieß und sämtlichen Spielen Raum ließ.
Kaum hatte Nourina ausgetrunken, zerrte sie Clemens erneut auf die Tanzfläche dieser Kathedrale, deren Decken so hoch waren, dass sie hätten einer wirklichen Kirche alle Ehre machen können. Doch diese Ehre, die der Ehre eines Gottes hätte nahekommen sollen, überwand der smarte Typ, indem er Nourina so nah an sich heranzog, dass ihr gepaart mit dem Alkohol nichts anderes übrigblieb, als auf sein Angebot körperlicher Nähe einzugehen. Nourina war eine schöne Frau. Sie war eine wirklich begehrenswerte Frau, nahm der Fremde noch wahr, als sämtliche Blicke auf dem glitzernd goldenen Kleid über ihren formvollendeten Konturen hängen blieben, was den Beau erst richtig in Wallung brachte. Sich ein Opfer auszusuchen, das allgemein begehrenswert erschien. Ein Opfer, das er sich in der kommenden Zeit zurechtbiegen würde. Durch Zuckerbrot und Peitsche. Etwas, das Clemens Seidler jenen Abend in sein unruhiges und unstetes Herz schrieb: Diese Frau mit Haut und Haaren so zu erobern, dass sie fallen würde, um sich seinem Charme niemals wieder ganz entziehen zu können. Zumindest so lange nicht, bis er allein entschied, jetzt sei genug. Dass sie selbst noch lange nicht genug hatte, wurde ihm spätestens klar, als sie ihre Brust an die seine schmiegte, was er mit einem Seufzen beantwortete. Ein Seufzen, das Nourina an ihren Mann und daran erinnerte, angekommen zu sein. Vom anderen Geschlecht, zumindest von dem Objekt ihrer aktuellen Begierde, ganz aufgesogen zu werden. Auch wenn sie sich mit all dem Alkohol intus nicht anders als eine Ansammlung von Knochen fühlte, die unter dem starken Beat der Musik von einer Seite zur anderen schwankte, als betrete sie mit ihrem Leib einen Boden, der so unsicher wie verheißungsvoll war. Eine Verheißung, die er an sie richtete, als er sagte: „Begleite mich.“
„Wohin?“, flüsterte sie, dicht an seinen Brustkorb gedrückt.
„An einen Ort fern von hier“, antwortete er, was Nourina an Dominik erinnerte.
„Um was zu tun?“, fragte sie und schob seine männliche Brust so weit von sich, dass sie ihm geradewegs in seine stahlblauen Augen blicken konnte.
Trotz all des Alkohols intus wusste Nourina, gäbe er jetzt eine Plattitüde von sich, würde sie sich von ihm losmachen und einfach gehen. Auf Stöckelschuhen zwar, die sie alles kosteten, aber dennoch stark genug und darüber hinaus siegesgewiss, wie sie es fast ihr gesamtes Leben lang gewesen war. Bis auf den Moment, oder sollte sie lieber sagen, ihr halbes Leben, das sie nicht hatte gebären können. Aber war nicht genau das in dieser Kathedrale der Lust, wo alle nichts anderes taten, als nur sich selbst und ihr Leben zu feiern, vollkommen gleichgültig? Hier war Nourina jemand und hier umarmte sie plötzlich einen Mann, der in seinen eigenen Wunden genauso unterzugehen schien wie sie selbst. Dafür hatte Nourina ein untrügliches Gespür entwickelt. Wann der andere, der, den man bekämpfte, schließlich selbst zusammensank, und das angesichts einer Siegesgewissheit, die Macht hieß und Kontrolle versprach. Über jemanden, der einem letztlich nichts bedeutete. Der allein ein Indikator dafür war, gesiegt zu haben. Über was oder wen auch immer war gleichgültig. Und schon drückte auch Clemens sie weit von sich, blickte ihr tief in die Augen und fragte sie in dem Glitzer der Lichtkegel unumwunden: „Wer bist du?“
Eine Frage, die Nourina nur zu gut kannte, um zu wissen, auch sie hatte ihn in der Hand. Jenen, der sich ebenso wie sie danach sehnte, letztlich doch noch anzukommen und mit Haut und Haaren angenommen zu werden. Von dem anderen Geschlecht vielleicht, zumindest aber von jemandem, dem man seine ganze Glut der Verzweiflung schenken wollte. Als sei man sich, dem anderen oder dem Leben selbst etwas schuldig: Und zwar zu leben. Nichts anderes als zu leben.
In genau diesem Augenblick, in dem Nourina ihn anblickte und er sich jemandem gegenübergestellt sah, der ebenso zäh wie unbezähmbar in sämtlichen Farben auf der Tanzfläche des Lebens schillerte war Clemens, als beuge er sich einer Macht, die Verführung hieß, die er selbst Stunden zuvor eigenmächtig heraufbeschworen hatte und nun zu ernten schien. Eine Frau, die wusste, was sie tat und die vorgab zu wissen, was sie wollte. Es sollten ihre jeweiligen Wunden sein, in denen sie sich die folgenden Stunden erkennen würden. Erst einmal aber nahm er sie bei der Hand, zog sie von der Tanzfläche weg hin zur Garderobe, um ihr anzuvertrauen: „Mit dir hätte ich diesen Abend nicht gerechnet.“
Nourina quittierte ihren Sieg mit einem ähnlich lauten Lachen, das ihr entsprungen war, als sie mit Dominik in den Pool gesprungen war, um sich selbst und damit ihrer eigenen Misere zu entrinnen.
„Komm mit mir“, setzte Clemens erneut an und half ihr den Blazermantel, von dem er ablesen konnte, dass sie ähnlich wohlhabend war wie er. Dass sich hier Gleich zu Gleich gesellte, was er schon zu Anfang des Abends an ihrem Kleid abgelesen hatte. Er hatte sich nicht getäuscht. Und er täuschte sich in ihr auch nicht, nachdem sie das Taxi ins Hotel gebracht hatte. Auf ein Hotelzimmer, in dem jede Individualität verging, wie ehemals Königreiche vergangen waren. Doch erst einmal verbanden sich dort in jenem Zimmer Königreich mit Königreich, als er sie noch an der Tür überwältigte, um sie sofort danach auf ein Bett zu stoßen, das die gesamte Suite dominierte. In derselben Sekunde öffnete sie seine Hose, um ihm das zu eröffnen, nach was ihn so sehr verlangte: Sein Feuer zu stillen. Das Feuer, das in seinem Herzen so angeschwollen war, dass auch er nach jedem Anker griff, der sich ihm bot. Jene Nacht war sie das. Eine Frau, die sein Herz auf eine Weise berührte, wie er es nie zuvor gespürt hatte. Eine Frau, die bereit war, alles zu geben und alles zu nehmen. Was sie tat, als er sich an ihr auf eine Weise verging, die mehr sexuell denn emotional war. Eine Währung, die er aus seinem Business nur allzu gut kannte, da sie auf Macht beruhte.
„Ich bin Banker“, gestand er ihr, als er das goldene Kleid emporschob und sich in etwas gab, das mehr als nur Verführung war.
Was sie ihm auf eine Art beantwortete, die sie gewohnt war, nicht zuletzt durch ihre Ehe. Jemanden umfassend zu befriedigen, der befriedigt werden wollte. Mehr noch als sämtliche Geschlechtsorgane ein Ego, das sich bereitwillig verbog, um das zu bekommen, was als wirklich erstrebenswert galt: Macht. Auch wenn sie sich diese auf ihre jeweils eigene Art nahmen, öffneten sie sich gleichsam etwas, das nicht mehr ihr Spiel werden würde. Ein Spiel, das sie ehemals gewohnt gewesen waren, nur um diese unentdeckte Sehnsucht in sich selbst zu stillen, die darüber hinausging, sich schlichtweg an jemand anderem zu befriedigen. Jene Nacht taten sie es noch in ihrer alten Weise, die weder rein noch gut war. Auch wenn sie viel dafür gaben, den kommenden Morgen wie die kommende Zeit in etwas zu verwandeln, das anders sein sollte, blieben sie jene Nacht nichts anderes als zwei Körper in zwei Fremden, die sich von dem jeweils anderen das nahmen, was sie zutiefst in sich selbst ersehnten, ohne jemals wirklich genau da heran gekommen zu sein: Sich selbst als Eins zu fühlen. Eins mit sich selbst und irgendwann Eins mit jemand anderem. Genau diese Erfüllung blieb ihnen jene Nacht wie die kommende Zeit verwehrt, die sie lustvoll in etwas eintauchten, das Reinheit hätte nahekommen sollen. Was sie beide in ihrer Sucht verspielten, zu gefallen. Einfach nur zu gefallen. In einer Ichbezogenheit, die ihnen im Wege stand, jemand anderem wirklich und aufrichtig zugeneigt zu sein. Auf eine Art und Weise, die Freundschaft hieß. Freundschaft mit sich selbst und Freundschaft mit jemandem, der über ihnen schwebte und sich dennoch nicht ganz zu erkennen gab. Jemand, der sie geschaffen hatte. So, wie sie waren und so, wie sie sich gerade zeigten. Ein Verlangen, das auch nicht wich, als er erschöpft in ihr Ohr flüsterte: „Ich fliege morgen nach Tel Aviv, begleite mich.“
„Ich habe kein Visum“, antwortete sie trunken von seinen Liebkosungen und dem ganzen Geschehen, das sie an eine Grenze brachte, von der Nourina noch lange träumen würde.
Was nicht nur gute Träume sein würden.
„Du brauchst kein Visum, dein Reisepass reicht“, gab er ihr knapp zur Antwort.
„Okay“, schmunzelte sie versunken, „ich überleg‘ es mir.“
„Du hast noch vier Stunden“, entgegnete er sanft und küsste ihre Hüften, was sie in ein Verzücken brachte, das sie stammeln ließ.
„Gut“, murmelte sie trunken, „ich hole meinen Reisepass. Morgen früh.“
„Was jetzt ist“, lächelte er, ohne von seinen Verführungen lassen zu können.
Nachdem Nourina der letzten Welle ihrer Lust für diesen Morgen entsprungen war, duschte sie kalt, streifte ihr goldenes Kleid über, trocknete sich die Haare und stellte sich aufrecht vor ihn hin. Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu, dann nahm sie ihn bei seiner Hand.
„Ich begleite dich, Clemens, aber nur unter einer Bedingung“, vertonte sie mit fester Stimme.
„Welche?“ fragte er und musterte ihr Gesicht.
Ebenmäßig, schön geschnitten und fast faltenlos.
„Du sagst mir die Wahrheit, immer und zu jeder Zeit“, antwortete sie.
Er blickte sie unumwunden an.
„Wahrheit, nicht Pflicht“, ergänzte sie und entzog ihm grazil ihre Hand.
Die Hand, die sie ihm nicht hätte reichen sollen. Trotzdem tat sie es, und das nur allzu gern. Viel zu gern in einem Spiel, das längst nicht mehr ihr eigenes war. Ein Spiel, das sie komplett an den Rand bringen würde. Einen Rand, der mehr bereithielt, als sie sich hätte jemals vorstellen können. Ein Rand, den sie selbst heraufbeschworen hatte, ohne zu wissen, dass dieser sie an einen Ort zurückbringen würde, an dem sie mit Dominik wenige Tage zuvor gewesen war. Ein Rand, der ihr all das nehmen und all das bringen würde, um was sie jene Zeit so sehr rang, ohne zu wissen, was oder wer genau das war. Eine leise Ahnung bemächtigte sich ihrer zwar noch, als sie mit Clemens Hand in Hand das Hotelzimmer verließ, um einen Flug zu starten, von dem sie ebenfalls nie geträumt hatte. Doch das verging rasch, als sie mit Clemens erneut Hand in Hand in das nächste Hotelzimmer wechselte, von dem sich Nourina ebenfalls keine Vorstellung gemacht hatte. So lange nicht, bis sie dort mit dem Mann landete, der ihr nie etwas anderes versprochen hatte, als nur wenige Momente trunkenen Glücks, was nichts anderes als Verbiegung hieß. Oder Verbeugung vor jemandem, den Nourina nur zu gut kannte, ohne ihn jemals ganz erkannt zu haben. Den Dunklen, der ihr zu oft schon begegnet war. Und das nicht nur in Träumen. Das Dunkle, das ein solches Loch in ihr Herz gebrannt hatte, dass Nourina alles lieb gewesen wäre, nur um dieser Finsternis zu entgehen, die sich erneut über sie legte, als sie Tel Aviv und damit den Hotspot des Feierns gemeinsam erreicht hatten. Eine Stadt, die über allen anderen erstrahlte und Berlin dennoch in nichts nachstand. Wo gefeiert wurde von Feiernden, die sich vorkamen wie Ertrinkende und ebenfalls nach jedem Strohhalm griffen, der sich ihnen bot. Was auch Nourina erneut tat, nachdem sie in der angesagtesten Bar der angesagtesten Stadt in Nahost gestrandet waren. Sie und Clemens. Ein Mann und eine Frau, die sich selbst nicht mehr kannten. Warum sie auch schon lange nicht mehr fähig waren, den anderen als das zu erkennen, was jener war: Ein geliebtes Kind Gottes.
Auch wenn Tel Aviv nur wenige Kilometer von der heiligen Stadt Gottes, Jerusalem, entfernt lag, fühlten sich die beiden Kinder, die sich wie Pech und Schwefel aneinander klammerten, nicht anders als Millionen andere, die alles taten, was auch immer es war, um geliebt und angenommen zu werden. Von wem oder wodurch auch immer. Und das in einer Zeit, in der alles möglich war und durch den eigenen Willen noch viel mehr möglich zu sein schien. Clemens und Nourina jedenfalls tanzten nach einem entspannten Nachmittag in dem Lichtkegel Tel Avivs die Nacht so hindurch, dass sie im Hotelzimmer sofort wie zwei ausgelaugte Tiere übereinander herfielen, denen gar nichts mehr heilig war. Nicht einmal sie selbst. In einer Zeit, in der absolut überhaupt nichts mehr heilig war. Weder die eigene Familie noch fremde Orte. Weder die Suche nach etwas noch das Ankommen in sonst was. Als hätte sich die vollkommene Finsternis nicht nur über ihr Herz gelegt, sondern auch über ihre Augen und Ohren, sodass sie nicht mehr sehen oder hören konnten, was wirklich für sie möglich gewesen wäre. Was kein Märchen war. Auch wenn es ihnen zu oft als solches verkauft wurde. Freiheit. Komplette und grenzenlose Freiheit. Frei von allen Bürden und frei von aller Schwermut. Frei von sämtlichen sträflichen Komponenten und frei von den eigenen einschnürenden Vorstellungen. Frei von Selbstanhaftung und frei von Gelüsten, die wie Feuer in ihrem Selbst aufloderten. Sie jedenfalls waren in etwas gefangen, in was sie sich weder frei fühlten noch jemals würden Freiheit finden können. Gefangen in etwas oder verhaftet an jemanden, der nicht nur gut für sie war. Auch wenn die Menschen seit jeher Hohn und Spott genau dem gegenüber ausschütteten, gab es ihn doch, der genau diese Freiheit innerhalb all jener menschlichen Begrenzungen versprach, die sie durch alles, was überhaupt existierte, mit aller Kraft zu überwinden suchten. Einen lebendigen Gott, der nicht verwarf und ihr Gebaren nicht richtete, sondern der heilte und das Zertrümmerte wiederaufrichtete. Menschen, Gebiete und Nationen. Dem nichts zu klein noch zu groß war. Der sich selbst in eine gefallene Welt voller entrechteter Menschen gegeben hatte, um das zu spenden, was den meisten nicht ohne weiteres gelang: innerlich frei zu sein. Jedes Leben wert zu schätzen. Und darin einen Gott zu finden, der nicht wegsah. Der aufstehen würde. Für sie und für ihre teilweise eigenwillig zertrümmerten Leben. Innerlich und äußerlich. Der immer dann auf dem Plan erschien, wenn die eigenen Pläne grenzenlos zerrüttet und erschüttert worden waren. Allerdings nicht von dem, der dann ebenfalls auf den Plan trat, ihren Untergang zu feiern. Allein durch jene, die jenem Macht und Kontrolle gegeben hatten, sie ganz zu verwerfen. Der angetreten war, sie zu vernichten. Und das umfassend. Mit Haut und mit allen Haaren. Bis auf die Knochen. Die Nourina den kommenden Morgen sehr genau spürte, nachdem sie sich mit Clemens sozusagen durchgefeiert hatte. Durch eine Nacht und Zeit hindurch, die sie nichts anderes mehr ersehnte, als ihren Schmerzen endlich und endgültig zu entkommen. Aber wie weit war sie genau davon entfernt. Milliarden Kilometer schienen das zu sein. Was sich ihrem Erleben selbst nicht entfremdete, nachdem sie mit Clemens im Meer geschwommen und in einer der Bars ein Frühstück genossen hatten, das eigentlich keine Wünsche mehr offenließ.
Offen ließ ihr Clemens stattdessen den angebrochenen Tag, den er selbst auf Meetings verbringen würde. Dafür würde sie Jerusalem einen Besuch abstatten, entschied Nourina. Mehr aus Trotz denn aus Überzeugung, die Stadt des Herrn und die Klagemauer seines auserwählten Volkes zu besuchen. Eine Mauer, die Nourina trotz der körperlichen Nähe mit Clemens so schwer in sich fühlte, dass sie noch am Morgen einen Sekt bestellte, den ihr Gegenüber lächelnd verwarf, schließlich musste er noch arbeiten. Und wie Nourina nur zu gut wusste, sollte Arbeit dazu angelegt sein, Menschen frei zu machen. Was sie Clemens vor dessen schöne Nase hielt, als sie sowohl auf ihn wie auf ihr neues Leben anstieß. Und damit auf das Leben einer Geschiedenen wie auf jemanden, den sie hochleben ließ und der wirklich gerne arbeitete. Auch wenn das hieß, im Schweiße seines Angesichts all die Mühe zu ernten, die jenen Menschen vorbehalten war, die das Paradies nur noch vom Hörensagen kannten.
Ein Paradies, das alle Menschenkinder verspielt hatten, nachdem ihre Vorfahren darauf gepocht hatten, mindestens so schlau und gewieft zu sein wie ein Gott, der alles geschaffen hatte. Sowohl sie selbst wie auch die Frucht ihrer Taten. Oder wo lag da der Fehler? Ein Fehler, den Clemens aufdecken würde. Unter anderem in den Bilanzen der Gegenseite, mit der er sich traf, um zu beweisen, dass er smarter als jene war, die ihn über den Tisch ziehen wollten. Ein Tisch, der aus Geld bestand und somit Macht versprach. Eine Macht, die in Gnadenlosigkeit geboren war. Einer Gnadenlosigkeit, die Eifer hieß. Eifer, besser als der andere zu sein und sich über jene zu erheben wie ein Gott, der keine Fragen mehr offenließ. Sofern man Ohren hatte, um zu hören und Augen, um zu sehen. Was allein jener Gott, dem Nourina noch begegnen würde, öffnen konnte. Allerdings – um einen ebenfalls sehr hohen Preis. Etwas, das die Menschenkinder seit jeher für sich in Anspruch genommen hatten. Sich selbst oder ihr Gegenüber opfern zu können. Warum sie es auch nicht so gut leiden konnten, dass sich jemand opfern sollte, der größer als sie selbst oder als jemand anderes war. Bis Clemens geopfert wurde. Für den Fehler eines anderen. Was den smarten Banker an seine Mutter erinnerte, die ihn seinem Vater geopfert hatte. Der hatte die Familie für seine Assistentin geopfert. Etwas, was seine Mutter jenem nie umfassend verziehen hatte. Warum sie sich gnadenlos an Clemens vergangen hatte. Ähnlich wie er sich hernach an unzähligen Frauen, von denen Nourina eine war. Immerhin zumindest eine, die ihm Gold für etwas vorgemacht hatte, das bei anderen für sehr viel weniger zu bekommen gewesen wäre.
Gold allerdings schien eine Währung zu sein, die Nourina nicht nur gut an sich selbst, sondern auch in dieser Stadt fand, die sie betrat, als sich Clemens einem Verhör gegenübergestellt sah, das er nicht vorweggenommen hatte. Denn sein Chef hatte ihm über Monate hinweg gekonnt eingetrichtert, er selbst, also Clemens selbst, sei unbesiegbar bis auf den jüngsten Tag. All die Lügen könnten gar nicht auffliegen, hatte ihm jener höherstehende Mann wie auf eine goldene Münze immer wieder eingeprägt. Bis zu der Stunde, die Clemens nur wenige Kilometer von der goldenen Stadt entfernt nach Atem rang, die Nourina gerade betrat. In der Absicht, ihm ein schönes Geschenk von dort auszusuchen. Eines, das ihre Leidenschaft erst so richtig anfachen sollte. Ein Geschenk, das keine Fragen mehr offenlassen würde. Wie sehr sie ihm verfallen und damit auf den Leim gegangen war. In einer Zeit, da niemand mehr nach wohltuenden oder tiefgründigen Werten fragte. Der schöne Schein musste reichen. Und den rieb Nourina ihrer jüngsten Errungenschaft schließlich nach einem langen Tag des Laufens durch die Altstadt Jerusalems bis hin zum Garten Gethsemane entgegen. Als sie unter Olivenbäumen Rast gemacht hatte, von denen es hieß, diese seien so alt wie die neutestamentarische Geschichte. Als der Sohn Gottes dort Halt gemacht und sodann verraten worden war. Nicht anders, als es Clemens jenen unsäglichen Tag geschehen war, da er seinem Chef mehr vertraut hatte als seiner Intuition. An einem Tag, den er auf eine Frau treffen sollte, die alles andere als stark und unabhängig war. Im Gegenteil. Jener unheilvolle Tag sollte zu etwas werden, das beiden noch lange in Erinnerung bleiben würde. Nicht unbedingt als der Tag des Herrn, zumindest aber als einer, da jener wohl seine Hand auf beide gelegt hatte, um sie das zu lehren, was den Menschen derzeit so schwerfiel: Demut. Nichts als Demut vor Kräften und Mächten, die besonders jene Zeit kennzeichnen sollte. Oder zumindest im Zeichen der Einzigartigkeit des Einzelnen und dessen Unfehlbarkeit an einem Horizont aufzog, der sich schon bald sehr verdunkeln würde. Nicht anders als es Clemens Stimmung jenen Tag tat, den Nourina ihm eröffnete, was sie wirklich bewegte: Er.