
Du musst für Gerechtigkeit sorgen – Sommerröte
Joshua kam nach einer kräftezehrenden Nacht um zehn Uhr morgens in einem Staat an, der Religionsfreiheit im Grundgesetz verankert hatte. Da er eine Kippa trug, die hierzulande wohl selten zu sehen war, freute er sich, in Berlin Frauen mit Kopftüchern zu begegnen. Die glaubten wenigstens noch an einen Gott, auch wenn das nicht sein Gott war. Über die deutschen Behörden hatte er Adressen von zwei von Huttens bekommen, die in Berlin lebten: Martha und Helena. Beide wohnten in der Nähe des Wannsees. Mit einem Taxi ließ er sich vom Flughafen in ein Hostel in der Mitte Berlins bringen. Nachdem sich Joshua etwas ausgeruht hatte, lief er durch die engen Gassen und erfreute sich an den sanierten Bauten, an den vielen Grünflächen und den Menschen, die sich in unterschiedlichen Sprachen unterhielten. Ein wenig kam es ihm wie das biblische Babylon vor, wo zahlreiche Nationen zusammengelebt hatten. Eine Stadt, die ebenfalls von unterschiedlichen Besatzern und Epochen geprägt gewesen war. Dass Berlin einst durch eine Mauer geteilt gewesen war, davon nahm Joshua kaum noch etwas wahr. Nachdem er sich entsprechend seines Reiseführers einige Sehenswürdigkeiten angesehen hatte, zuletzt die Hackeschen Höfe, in denen vor dem Holocaust zahlreiche Juden gelebt hatten, fröstelte den jungen Mann angesichts des kühlen Aprilwetters.
In einem der vielen kleinen Bars bestellte er sich ein deutsches Bier und befand, in Berlin ließe sich leben. Die Synagoge auf der Oranienburger Straße würde er sich für den Auftakt zum Sabbat, also für Freitag aufheben. Sein Rückflug ging nach Ostern. Bis dahin würde er sich auch ein paar Urlaubstage gönnen. Die Gedenkstätte Sachsenhausen hatte er zwar auch auf dem Zettel stehen, aber ob er in der Lage sein würde, seiner Familiengeschichte ausgerechnet dort zu begegnen, würde er von seinem Zustand abhängig machen. Je nachdem, wie es mit der Suche nach seinen Verwandten liefe. Dass er sie suchte, verdankte er seiner Großmutter, die zeitlebens nicht mit ihrem Schicksal hatte abschließen können. Zerfasert von Arbeit, die sie in einem Kibbuz verrichtet hatte, hatte Sara auf dem Sterbebett gelegen, in den Himmel geblickt und auf Hebräisch, ihrer Fremdsprache gesagt: „Du musst für Gerechtigkeit sorgen, Joshua, für mich und für deine Nachkommen.“
Danach war ihr sichtlich der Atem ausgegangen. Joshua hatte ihr als einziger Enkel nie diesen Frieden schenken können, nach dem es Sara ihr Leben lang gedürstet und gehungert hatte. So wenig wie der Mann, den sie geheiratet hatte, wie nicht das Land, das als ‚Gelobtes Land‘ in die Geschichte eingegangen war. Gelobt worden war vor allem ein Gott, der nicht einzugreifen schien. Joshua fragte nicht einmal mehr danach. Er wollte nur noch wissen, wer die Menschen waren, die seine erbarmungswürdige Großmutter verraten und diese Entwurzelung an ihn weitergegeben hatten. In einem Regime, das zu Recht ‚Unrechtsregime‘ genannt worden war.
Wenn Joshua allerdings Nachrichten sah, fragte er sich, wie viele von diesen Unrechtsregimen es heute auf der Welt gab und ob das niemals enden würde. Er jedenfalls wollte für seine Großmutter ein Ende finden. Ein Ende in der Familie von Hutten, die so skrupellos gewesen war, ihre eigenen Angehörigen dem Tod zu überantworten. Noch in den Momenten hatte ihm seine innerlich bis zum letzten Atemzug strauchelnde Großmutter eingebläut, sie nicht zu verachten. Nicht für das, an was sie glaubten, nicht für das, wer sie waren, und nicht für das, was sie getan hatten. Er hatte es ihr versprechen müssen, aber wie das so war mit erzwungenen Versprechen, hatte Joshua in seinem Herzen sofort einen solchen Widerstand gefühlt und nach Vergeltung geschrien, dass ihm schwindelig geworden war. Joshua war nicht nach Deutschland gekommen, um nach einer wie auch immer gearteten Gerechtigkeit zu schreien, sondern um Rache zu üben. Er würde diese Familie fertigmachen. So, wie seine Vorfahren nach Strich und Faden fertiggemacht worden waren. Ähnlich dem, wie sie die Palästinenser fertigmachten, die ihr Land beanspruchten. Heiliges Land, von seinem Gott auf ewig versprochen. Jerusalem war Gottes auserwählte Stadt, nicht Mekka, nicht Berlin oder sonst irgendeine Stadt – weder nahe dem Bosporus noch nahe dem Nil.