Kapitel Dieses Leid haben wir niemals für dich gewollt GoldenTor-Geschichte von Isabelle Dreher

Dieses Leid haben wir niemals für dich gewollt – Königskind

„Mein Vater, der ein guter Vater ist, hat das niemals für dich gewollt oder vorgesehen“, setzte Jeschua erneut an, der noch ganz andere Dinge als Toni erlitten hatte.

Verlassen und verworfen, verachtet und verurteilt worden zu sein war zwar auch Jeschua geschehen, doch irgendwie konnte dieses Wissen Tonis Ohnmachtsgefühl nicht auflösen. Niemand außer dem Widersacher konnte das toppen, fand Toni, die sich so verworfen und verstoßen vorkam, dass sie sich selbst und ihr Leben nicht mehr verstand. Irgendwie konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass ein anderer das ebenfalls erlitten hatte – oder Schlimmeres, wie es Jeschua für sich in Anspruch nahm. Der aber gehörte untrennbar zu den Dreien, warum er sich wohl auch niemals hatte so verlassen, entwürdigt, gedemütigt und übel zugerichtet fühlen müssen wie sie, dachte das Mädchen, dem war, als läge es mit sämtlichen Schmerzen dieser Welt in Wehen.

„Doch“, antwortete Jeschua, der wieder aufstand und sich aufrecht vor Toni stellte, „das alles habe ich ebenfalls erlitten. Und es steht geschrieben, wenn du es lesen würdest, dass auch ich meinen Vater gefragt habe, warum er mich verlassen hat, am Kreuz und damit in den schwersten Momenten meines Lebens auf Erden. Denn das, was du gerade empfindest, Toni, ist auch mir geschehen und habe ich meinen Vater gefragt: Eli, Eli, warum hast du mich verlassen? Getrennt von Gott Vater und seinem Geist zu sein, ist die Hölle auf Erden. Das, Toni-mein-Schatz, ist die schlimmste Strafe jemals, die wir für dich und für alle, denen Schlimmes geschehen ist, niemals vorgesehen haben. Genau dafür bin ich gestorben. Dafür habe ich das alles erlitten. Für euch. Aber du hast natürlich Recht. Wenn einem das durch den eigenen irdischen Vater geschieht, ist das wie eine Strafe, die man nur schwer überleben kann. Es sei denn, man würde mir dieses Leid, diese Strafe und diesen Tod geben oder übergeben, denn ich habe das alles ja stellvertretend für euch überwunden, sodass auch du das nicht mehr tragen oder ertragen musst, Toni-mein-Schatz. Das alles kommt jetzt auch nur so deutlich an oder in dir hoch, weil du von uns Macht bekommen wirst, genau dagegen anzugehen, was wie eine lebenslange Höchststrafe gewesen ist“, flüsterte Jeschua und blickte sein Kind mit aller Liebe an, die er für Toni hatte.

Und schon sah es das Mädchen wie auf einem Schild vor sich auftauchen: „Holocaust heißt Opferung“, bemerkte es.

„Holocaust stammt vom Griechischen ab und meint ‚vollständig verbrannt‘, also Opferung“, nickte Jeschua. „Ihr alle habt eine Höchststrafe erlitten, für die ich eintreten werde. Und nein, es gibt keinen Grund“, fuhr Jeschua fort. „Es gibt keinen Grund, warum euch das geschehen ist, außer dem, dass der Widersacher sein Unwesen treiben wollte und konnte, weil mich so viele einfach nicht anerkennen wollen oder können.“

„Mehr ist es nicht?“, fragte Toni scheu, die sich ihrer Schmerzen so umfassend bewusstwurde, dass sie nach Jeschuas Händen griff, die Symbol und Sinnbild für dessen erlittene Wunden waren, und damit wohl auch für ihre.

Jeschua hatte bezahlt. Alles. Stellvertretend ebenfalls für sie. Und das wollte Toni jetzt auch in Anspruch nehmen. Und zwar umfassend. Wie in einem Testament. Sein Testament für sie.

„Vernichtung“, blies Jeschua aus, womit er auch die Zeit meinte, da Juden vernichtet worden waren, und das zu Millionen.

„Vernichtung“, griff Toni sein Wort auf, das in ihr mächtig anschwoll und sie sich am liebsten hingelegt und komplett aufgegeben hätte.

Aber auch Jeschua war das wohl geschehen. Immerhin war er das Wort Gottes, das gegen all diese Vernichtung stand, ebenso konzentriert wie in einem Vernichtungslager, dachte Toni. Menschen wollten richten und mit der Macht des Widersachers nichts als vernichten. Einfach nur, weil sie herrschen wollten. Durch Gewalt. Weil sie Macht haben wollten. Und weil sie die Drei hier oben wohl noch nicht so gut kannten oder nie hatten ernsthaft kennenlernen wollen, warum sich all dies Leid immer weiter auf Erden ausbreiten und vervielfältigen konnte, was für Toni wie ein flächendeckendes und verzehrendes Feuer aussah, das Menschen weltweit zerstörte und irgendwann tötete.

„Steh auf“, sagte Jeschua ruhig und streckte Toni seine durchbohrten Hände hin, „steh auf Kind Gottes und werde dir in uns bewusst, wer du bist.“

„Kind des Höchsten“, stammelte Toni, der war, als könne sie vor lauter Tränen, die aus ihren Augen rannen, gar nichts mehr erkennen.

„Du kannst“, sprach ihr Jeschua gut zu, „du kannst alles in mir. Und du wirst sehen, es wird ganz einfach sein. Du wirst in mir all das überwinden, was deinem Leben entgegenstand und durch mich in all die Herrlichkeit und Fülle eingehen, die du dir jemals gewünscht hast. Mit und in mir wirst du alles schaffen, was nötig ist, um da jetzt ganz rauszukommen. Besonders aus diesem Keller, der dir jede Luft zum Atmen genommen und dir diese unfassbaren Schmerzen beschert hat, die ich dir allesamt nehmen kann, weil ich das alles am Kreuz überwunden habe, stellvertretend für euch, denen das Unsagbare geschehen ist.“

„Nimm mir all diese Schmerzen, all diese Scham und all das Grauenvolle, was geschehen ist, jetzt bitte an deinem Kreuz ab, Jeschua, denn ich glaube und vertraue dir“, flüsterte Toni unter Tränen. „Tu du bitte das Unfassbare, nachdem mir das Unfassbare von Menschen angetan worden ist“, keuchte sie. „Denn du bist Gott und nicht Mensch, also zumindest bist du nur halb Mensch und eben halb Gott. Und wenn du um mich geweint hast und aus deinem Leib am Kreuz dieses Blut geflossen ist, das mich wieder zu Leben bringt, dann möchte ich das jetzt in Anspruch nehmen“, murmelte Toni, die in diesem Augenblick sehr genau fühlte, wie sehr sie ihn schon liebgewonnen hatte.

Was mehr war als jene Gefühle, die sie Ramon oder den anderen gegenüber hegte. Jeschua war besonders, auch für sie. Oder ganz besonders für Toni, die grausamere Dinge erlebt hatte als viele andere, auch wenn sie Millionen Kinder insgesamt auf Erden waren, denen das unsagbar Grauenhafte geschehen war oder derzeit geschah. Und dann sah Toni, wie in Kriegen und Hungersnöten anderen das angetan wurde, was ihr leiblicher Vater ihr angetan hatte. Als vervielfältigte der Dunkle das, was an Entsetzen kaum zu ertragen war, und das auf vielfältige Art und Weise. So, wie Gott Vater das Gute und Erhabene auf vielfältige Weise vervielfältigte.

„Aber warum gehst du dagegen nicht an?“, schrie Toni angesichts dieser heftigen Bilder jäh auf.

Und das auch, weil sie sehr genau wahrnahm, dass es dieses Leid und diese Zerstörung durch rohe Gewalt unvorstellbar oft auf Erden gab und sie sich am liebsten von all dem abgewendet hätte, was auch bedeutete, sich von Leben, also den Dreien abzuwenden. Einfach nur, weil das alles umfassend und flächendeckend zu schlimm war. Also so schlimm, dass kein Mensch das hätte tragen oder ertragen können, fand Toni. Was Jeschua sehr genau bei ihr fühlen konnte.

„Ich habe das alles getragen und ertragen“, flüsterte er. „Ich habe das Äußerste an Leid ertragen und für euch getragen, ihr müsst nur noch annehmen, dass es von euch weg und am Kreuz auf mich übertragen worden ist“, sprach Jeschua seinem Kind ruhig zu.

„Übertragen“, wiederholte Toni und fühlte sich wie in einem Spinnennetz.

Oder wie in einem Netz, das Menschen gelegt hatten, um sie zu fangen und gefangen zu nehmen. Und das lebenslang, wenn nicht gar ewiglich.

„Ich liebe dich trotz allem, Gott“, flüsterte Toni und hatte in sich das Gefühl, dass das jetzt richtig war.

Wie auch sie richtig war. Selbst nach all diesem Horror und Terror, den sie auf Erden erlebt hatte.

„Du bist richtig und du kommst jetzt höher“, nickte Jeschua ihr zu, in was Toni wie in einem unbeschreiblichen Sonnenlicht aufzugehen schien, das sie durchflutete, wärmte und auch schützte.

Vor der gesamten Kälte dieser Welt, die sich wie eine Kralle um sie gelegt hatte.

Nach Jeschuas Worten war Toni, als komme sie wie selbstverständlich und ohne Umwege zu Gott Vater selbst, um ihm zu sagen: „Ich weiß nicht, was das war und warum das alles auf mich gekommen ist, aber ich glaube und ich vertraue euch. Trotz allem und in allem, was jemals und umfassend zu groß und auch zu schwer für mich gewesen ist.“

„Darum wird dir jetzt auch geschehen, dass du höher und tiefer kommst“, wiederholte der höchste Vater persönlich.

Der, der ihr hatte abhandenkommen sollen durch ihren irdischen Vater, was Toni durch Jeschua inzwischen verworfen hatte. Und dann sagte Gott, der gute Vater, die Worte, die Toni komplett umwarfen: „Es gibt jetzt kein Gestern und auch kein Morgen mehr für dich, Toni-unser-viel-geliebter Schatz, denn ich fülle von nun an dein ganzes Sein“, lächelte Gott Vater ein Kind an, dem war, als gehe es in seinem unbeschreiblichen Licht auf wie die Morgenröte. „Denn in meiner Gegenwart gibt es nur noch das Jetzt, nur noch den Augenblick und damit …“

„… Ewigkeit“, ergänzte Toni, die sich selbst nicht mehr fassen konnte.

„Denn in meiner Gegenwart und in meinem Angesicht gibt es keine Zeit und keine Zeitspanne, da Zeit etwas Relatives ist“, fuhr Gott Vater fort. „Ich kann alles ändern, in einem einzigen Atemzug, das was war, das was ist, und das was kommen wird. Denn ich bin, der ich bin, und der, der alles kann, eben der, der alles erschaffen und auch euch gebildet hat, auf dass ihr euch aneinander erfreut, an uns und an all der Pracht und Herrlichkeit, die immerhin ich euch zur freien Verfügung gegeben habe“, erklärte Gott Vater.

„In dem freien Willen, den du uns ebenfalls geschenkt hast“, blitzte in Toni wieder so etwas wie Hoffnung auf.

Diese Hoffnung hieß, dass Toni jederzeit neu wählen, also sich entscheiden konnte. Für das, was die Drei bereithielten, nicht aber Menschen. Und sie sah auch, dass viele gegen Gott rebellierten, obwohl der das in ihren Augen gar nicht verdient hatte, weil er eigentlich nur das Beste und Gute für sie alle wollte, warum er auch den Plan Jeschua in die Welt gegeben hatte.

„Bis wir gegen dich aufbegehrten und so sein wollten wie du“, sah es Toni deutlich, was sie ebenfalls schmerzte. „Wie der Widersacher“, fiel Toni plötzlich auf, „der hat auch gegen dich rebelliert wie es Millionen Menschen heute noch auf Erden tun“, blies sie ihre Worte aus, die Jeschua auffing und zu einem Brunnen zusammenfügte, den er mit dem Strom vom Thron des Höchsten verband.

„Wir haben alle deine Tränen gezählt“, vernahm Toni eine tiefe, ruhige und sehr klare Stimme, ohne genau erkennen zu können, wer von den Dreien das war. „Und diese Tränen haben wir gebraucht, um mit dir jetzt säen zu können, eine Ernte, die wir vor Urzeiten schon geplant haben.“

„Denn ihr überrascht uns nicht“, fuhr Jeschua fort. „Es ist nicht so, dass wir das alles nicht sehen, jemals gesehen hätten oder wegschauen würden.“

„Nicht“, murmelte Toni, die das Gefühl hatte, einen Faden in ihren Händen zu halten, den sie ausnahmsweise mal nicht klar sehen konnte.

„Das ist die Schnur, die du nehmen wirst, um andere Kinder damit zu vertauen, auf dass sie ebenfalls zu uns kommen können, und das sicher“, ergänzte die klare Stimme von Gott Vater.

„Die aber noch in Gefangenschaft sind“, flüsterte Toni, der dieser Umstand nach allem, was sie schon erlebt hatte, nicht fremd war.

Toni war eine Gefangene gewesen. Doch mit einem Mal fand sie es nicht mehr so schlimm, dass sie nicht alles bis ins letzte Detail verstand. Wer den Überblick hatte und behielt waren die Drei, die sie hier oben immer besser kennenlernte. Und die machten dann immer so große Dinge aus ihrer kleinen Verzagtheit, dass Toni wieder diese Abenteuerlust überkam, die sie hier oben so mochte. Alles war ein Abenteuer mit den Dreien. Und wie nebenbei lösten die immer wieder das in ihr auf, was sie ehemals beklemmt oder behindert hatte. Allerdings, und das erkannte Toni nach dem langen Weg, den sie bereits zurückgelegt hatte erstmalig, machten die Drei genau aus ihren Wunden und ihrem Elend das unfassbar Größere – und um ein vielfach Schöneres. Es sah aus wie ein Pfad, der durch Tonis innere Wüste führte, die die Drei bewässert hatten und jetzt formten, um den Weg noch breiter und besser begehbar zu machen. Vermutlich, damit noch mehr Kinder auf diesem Pfad wandeln konnten, der der Weg der Drei war. Wenn auch schmal zu Anfang, zum Ende hin schien der zu einer recht großen Pforte zu führen, die auch noch golden aufschimmerte, als Jeschua sie bei der Hand nahm und auf dem Pfad, der Toni vorkam wie der sehr begrenzte Weg ihrer Vergangenheit, schließlich zu einem Tor führte, vor dem der Christus ehrfurchtsvoll stehenblieb. Fast war dem Mädchen, als verneigte sich sogar Jeschua vor diesem Tor, von dem Toni recht erahnte, dass es das Löwentor war. Das Tor, durch das die Menschenkinder kommen würden, um in die ewige Stadt zu treten. Die Kinder, die den Weg mit den Dreien bis hierhin schon gegangen waren, unabhängig davon, was zuvor alles geschehen war. Bis Jeschua sie sozusagen vom Kreuz abholte, denn auch das sah Toni hier deutlich – das Kreuz hatte sozusagen gegenüber dem Tor gestanden, was aus der Perspektive, die das Mädchen gerade annahm, wie ein Katzensprung aussah, auch wenn sie am eigenen Leib erfahren hatte, wie beschwerlich dieser Weg insgesamt gewesen war und in ihrem Inneren immerhin Jahre eingenommen hatte.

„Wir haben diesen Weg Ramon schon einmal gezeigt“, hörte Toni daraufhin Jeschuas Stimme neben sich, der sie fest an seiner Hand hielt.

„Aber er hat nicht gewollt“, flüsterte Toni.

„Er konnte nicht“, antwortete Jeschua.

Eigentlich war es Toni egal, warum Ramon nicht gekonnt hatte. Reflexartig fragte sie dennoch: „Warum?“

„Weil er für sich selbst nicht in Anspruch nehmen konnte, dass wir alles für ihn tun möchten. Weil er damals, wie die meisten von euch, alles selbst schaffen wollte. Weil er damals noch dachte oder glaubte, er könne alles selbständig, was auch heißt, sich selbst richten, also rechtfertigen und gerecht sprechen zu können. Weil er uns zu jenem Zeitpunkt in seinem Leben nicht umfassend glauben wollte, sondern lieber sich selbst und seinen eigenen Urteilen. Eure eigenen Urteile aber sind die der Welt, die genauso vergehen wird wie eure Urteile über euch selbst und letztlich über uns, denn wir haben euch und alles geschaffen. Wer richten wird, sind wir. Ihr werdet weder andere noch euch selbst freisprechen können, das bleibt allein uns vorbehalten, denn wir haben die Matrix entworfen und sozusagen aufgesetzt, die für jedes einzelne Menschenkind gilt, was ihr umfassend alles gar nicht bewerten könntet, selbst wenn ihr es im besten Sinne wolltet.“

„Er kannte euch da aber auch noch nicht so richtig“, atmete Toni schwer aus, die das mit Ramon vor ihrem geistigen Auge ablaufen sah. „Damals war es ein Engel“, flüsterte sie und schloss ihre Augen, denn die Situation entfaltete sich gerade sehr herrlich vor ihr, „ein Engel des Herrn war es, der ihn leiten sollte.“

„Aber er konnte nicht folgen“, bestätigte Jeschua.

„Warum?“, entfuhr es Toni reflexartig.

„Weil sein Bein gebunden war“, nickte Jeschua ihr zu, in was Toni einfiel.

„Durch seine Vorfahren“, sah Toni.

„Familienflüche“, brachte es Jeschua auf den Punkt.

„Nicht so gut“, murmelte Toni. „Sollen wir es ihm sagen?“, fragte sie.

„Warte noch“, hörte sie Gott Vaters Stimme. „Erst einmal sollst du sicheren Fußes herübertreten.“

„Okay“, nickte Toni und blieb reglos stehen.

Inzwischen hatte Toni gelernt, dass die Drei die Koordinaten erst bestimmen und festlegen mussten, ehe überhaupt irgendetwas geschehen konnte. Letztlich waren all diese Wege keine Selbstläufer, sondern musste alles immer wieder den Gegebenheiten, den inneren wie den äußeren, angepasst werden, und das von allen Beteiligten, was die Drei in ihren Händen hielten und koordinierten.

„Said wird gleich auf Ramon zutreten und ihm etwas sagen“, erläuterte Jeschua.

Und schon sah Toni, wie sich Ruach auf Said legte, ohne dass der sie hin- und her kicken musste. Wenn man höher gekommen war, fiel das weg und verband sich Ruach sofort mit dem Geist des Menschen, der bei Said wie bei vielen anderen schon mit dem Höchsten verbunden war.

Ohne im Nachrichtenzimmer sein zu müssen konnte Toni der Szene mühelos beiwohnen, da sie inzwischen immer besser in Gottes Geist sah. In oder durch Ruach, die überall war, alle und alles verband und das offenbarte, was die Menschenkinder sehen sollten. Was herrlich anzusehen war, sodass es Toni gleichgültig wurde, wohin das alles letztlich führte. Es war schön, einfach nur dabei zu sein. Und wie Gott Vater ihr mitgeteilt hatte, gab es für sie keine Zeitebene mehr, weder das Gestern noch das Morgen, sondern alles auf einmal, was in Gott selbst, also auf seiner Ebene ablief, da er allein die unterschiedlichen Zeitebenen ordnete, übereinanderlegte und schließlich zusammenführte. Auch das war herrlich anzusehen, fand Toni, Gott Vater in Aktion. Das hatte was, blickte Toni auf den, den sie kaum erkennen konnte und der so schnell eingriff, wie sie es ihm zuvor noch vehement abgesprochen hatte. Dass er alles auf einmal konnte. Wie in einem Konzert, wo alle Stimmen und Instrumente gleichzeitig ineinander spielten. Letztlich war Gott wohl der Künstler aller Künstler und Musik sein Hauptmerkmal, warum es so schön war, ihn anzubeten, in und mit dieser Musik, die unbeschreiblich blieb, aber ebenfalls zu dieser Ewigkeit gehörte. Wenn jemand sang oder diese Töne ineinander spielten, ergab das etwas Einzigartiges, was Zeit enthoben war. Also tauchte Toni in eine Ebene ein, die Zeitlosigkeit hieß und Ewigkeit bei Gott meinte. Hier fühlte sie auch, dass ihr ehemaliges Entsetzen auf Erden vollkommen vorüber war. Mitten in ihr selbst, denn sie war ja nun im Herzen des Höchsten und somit an einem verborgenen und sicheren Ort, wo sie sich frei und schwerelos fühlte, was wohl ebenfalls zu dieser Ewigkeit gehörte, die Gott selbst war.

Konzentriert folgte Toni den Bildern, die sich wie ein Film in den hellsten und klarsten Farben vor ihr entfalteten. Sie sah die Direktorin Ephania Lopez vor sich, die in der Nähe blieb, um auf Geheiß der Drei jederzeit eingreifen zu können. Und sie sah Jeschua, wie er sich hinter Said stellte, um ihn zu halten, falls die Wucht der Bilder, die auch in dem Jungen unwillkürlich aufstiegen, umzuhauen drohten. Denn das alles war zu groß, als dass der Mensch allein es hätte halten können. Dazu mussten andere helfen, was auch Engel waren, die Gott in jeder Situation und Lebenslage dienten. Letztlich waren diese Geistwesen eine Ebene über dem Menschen geschaffen worden und konnten darum vieles in Gang setzen. Allein auf Gottes Wort hin natürlich, das der Christus war. Warum die Menschen angehalten wurden und lernen sollten, Gott sein eigenes Wort, das Jeschua in Person war, entgegenzuhalten, wie es Said gerade Ramon gegenüber tat. Der wiederholte erstmal, was Toni ihrem Freund schon gesagt hatte. Denn auch das war wichtig und lernten sie hier oben: Jedes Wort musste bezeugt werden. Entweder durch Worte in der Bibel oder durch Worte, die verschiedene Kinder aussprachen, was alles die Worte Gottes waren, die sich ebenfalls wie ein Seil zu etwas verdichten konnten, was dann wie ein Anker oder Rettungsseil wurde, das Toni unter Umständen anderen Kindern nahebringen oder reichen sollte. Eben so, wie sie es im Internat gelernt hatte. Also hörte Toni Said sprechen, der sich Ramon ganz zuwandte. Der blickte den Jungen zunächst lächelnd an, denn offenkundig genoss Ramon den Moment und das Feiern in vollen Zügen.

„Ramon“, begann Said, „du dachtest vielleicht, du seist ein Fehler oder könntest Fehler gemacht haben, die nicht mehr rückgängig zu machen sind oder die sich nicht mehr löschen lassen, aber das stimmt nicht“, bewegte der Junge rhythmisch seinen Kopf, was Ramon sofort in seiner Bewegung innehalten ließ.

„Stimmt nicht?“, schüttelte Ramon synchron zu Said seinen eigenen Kopf.

Einen Kopf, den Gott, der Herr, gestaltet hatte. Einzigartig, was manchmal auch hieß, eigenwillig. Eben mit dem absolut freien Willen ausgestattet, der sie letztlich alle zu dem Individuum machte, als das der Höchste sie ausnahmslos ansah und ernst nahm. So ernst, dass er sie wählen ließ: Glaube oder Rebellion. Leben oder Tod. Segen oder Fluch. Das alles konnten die Menschenkinder jederzeit neu wählen. Wobei, und das begriff Toni in dieser Geborgenheit hier oben erstmalig, selbst die Schuld der Vorväter und Vormütter, was sich wie Flüche auf die nächsten Generationen auswirkte, am Kreuz aufgelöst werden konnten, als habe es das Vormalige oder Ehemalige niemals gegeben, sofern sie Gott glaubten und Jeschua um die komplette Befreiung aller baten. Also Gott in dem Namen seines Sohnes, des letzten Adams, um Verzeihung baten und darum, diese Flüche, Begrenzungen und eben all diesen Horror über Generationen hinweg bis zu Adam und Eva aufzulösen.

„Nein“, blickte Said den Jungen offenherzig an, „denn es kommt eine Zeit und die ist jetzt, wo du mit anderen Umgang pflegen wirst, die dich darin unterstützen werden, den Weg, den du ehemals verworfen hast, so zu gehen, dass dir alles zum Besten dienen wird.“

Das waren die Worte Gottes, jubilierte Toni innerlich, denn in der Bibel, in Gottes Wort, in seinem für die Menschenkinder aufgeschriebenen Leitfaden sozusagen, der durch Jeschua lebendig vor ihnen stand, hieß es nicht zuletzt, dass Gott all denen, die ihm glaubten, einfach alles zum Besten wendete. Das hatte Toni hier oben inzwischen eindeutig verstanden – dass die Drei immer darauf achteten und darauf schauten, dass es ihnen allen zu jeder Zeit gutging. Und selbst wenn das nicht der Fall war, wandelten die Drei das in ihrer Kraft und ihrem Vermögen, nicht zuletzt durch das Kreuz – den Umschlagpunkt zwischen Erde und Himmel – dennoch in etwas, was nicht nur gut für das eine Kind war, sondern ebenfalls für sehr viele andere mit. Das war auch die Größe und Vollkommenheit der Drei, die Toni inzwischen immer besser fassen, also als Wahrheit begreifen konnte. Was sie nicht so gut fassen konnte, war der Weg, den sie gemeinsam gehen würden, und zwar zu genau dieser Zeit, die immerhin Gott, der Herr, selbst festgelegt hatte, vor Urzeiten schon. Das war eine Ebene, die die Drei gerade aufzogen oder sozusagen aus dem Himmel auf die Erde herunterholten. Und damit auch auf ihre Kinder, die das mit ihnen wollten, also ebenfalls erleben wollten – wie auf die Weltenzeit, die die Drei konzentriert und präzise einleiteten. Wobei wichtig war, dass jedes Kind wusste, wo es stand, und eine Ahnung davon bekam, wohin die Reise gehen würde. Zum Löwentor, frohlockte Toni, auch wenn sie durch Jeschua wusste, dass Ramon das damals verworfen hatte. Immerhin waren sie dann zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam Hand in Hand dort hindurchgeschritten, was Said gerade versuchte, Ramon näherzubringen, ohne dass er Papier und Malstifte zur Hand gehabt hätte oder Shelly das Tor in dieser Schnelligkeit nachbilden konnte. Worte mussten in diesem Augenblick reichen, den aber Ramon sozusagen schon gut vorbereitet worden war. Durch die Zeit der Drei, die jede Zeit auf Erden mit ihren göttlichen Zeitpunkten verbanden – und das sowohl für die Welt als auch für die einzelnen Kinder. Von denen war Ramon einer, der mittels Ruach all das erkennen und sodann durchschreiten konnte, was seinem Weg ehemals entgegengestanden hatte. Das hieß, ein Leben in Fülle, was auch Ramon irgendwie verstand oder intuitiv erfasste, letztlich waren auch seine Augen für das größere Ganze geöffnet worden, sodass Said nur fortfahren musste, im Fluss des Geistes, der wie ein Strom des Lebens von Gottes Thron war.

„Nein, du bist nicht falsch, Ramon“, sprach Said weiter, „andere haben dich das glauben lassen, um letztlich Gott nicht glauben zu müssen. Denn hätten sie dir geglaubt, auf dich gehört oder dir nur mal zugehört, hätten sie überlegen müssen, ob oder dass es Gott wirklich gibt. Gott, den guten Vater, den nicht ein Mensch auf Erden so gehabt hat, wie es Gott für seine Kinder in der Ewigkeit sein will, die er gerade einleitet. Jeschua, Gottes Sohn kam, um uns alle mit Gott Vater, also dem, der uns geschaffen und gemacht, der uns gebildet und ausgebildet hat, zu versöhnen. Und zwar so umfassend, dass wir ewig mit ihm leben können, in der Stadt, in der du mit Toni und Jeschua schon gewesen bist.“

„Jerusalem“, spuckte Ramon aus, denn sein Herz zog sich schlagartig zusammen, als er überlegte, warum er das nicht schon damals verstanden oder angenommen hatte.

„Ja“, nickte Said, „denn deine Vergangenheit gereut Gott gar nichts, da er uns vom Ende her sieht, also von dort, wo er uns hin haben möchte und wohin wir durch Jeschua jederzeit finden können, der für uns in den höchsten Himmeln eintritt und als der höchste Priester für uns bittet, also betet“, lächelte Said den Jungen an, von dem er fand, dass dieser ein wirklich guter Freund würde werden können.

„Aber ich habe alles falsch gemacht und Gottes Weg für mich verworfen“, blickte Ramon gen Himmel, obwohl das hier oben ein wenig seltsam aussah, denn sie waren ja schon dort, was man Himmel nannte.

„Das macht nichts“, legte Said mitfühlend eine Hand auf Ramons Schulter, von dem er sah, dass der wirklich bereute.

Und Said sah auch, nicht nur, weil Gott Vater ihm Ramons Lebensbuch geöffnet hatte, sondern ebenfalls seine geistlichen Augen, dass Ramon kommen würde, weil er durchaus Teil von etwas Größerem und Herrlicherem sein wollte.

„Weißt du“, sprach Said zu Ramon wie Freund zu Freund, „es ist nicht wegen Toni, die dich eingeladen hat.“

„Nicht?“, platzte es aus Ramon heraus.

„Nein“, lachte Said, „es ist wegen Gott, dem Vater, den auch du nicht gehabt hast, wie wir alle nicht“, fügte er hinzu, ehe sich in Ramon so etwas wie Scham breit machen konnte. „Gott selbst wollte dich und er wollte dich führen“, fuhr Said fort. „Gott ist dir nachgegangen, jeden Tag, egal was du getan und nicht getan hast. Er ist dir begegnet und er wollte dir begegnen, auch wenn wir das auf Erden nicht mehr so empfinden oder sehen können, wie ehemals im Garten Eden, wo Gott noch von Angesicht zu Angesicht mit uns gesprochen hat.“

„Er wollte mich?“, blickte Ramon den Jungen mit offenherzigen Augen an.

„Mehr als du dir vorstellen kannst“, lachte Said hell auf, „denn auch wenn es schwerfällt, das nach allem zu glauben, hat dir Gott selbst die Gabe gegeben, mit anderen Menschen so wohltuend und auch liebevoll zu sprechen, dass sie Gottes Herzen und Güte in deinen Worten spüren können.“

„Was?“, spuckte Ramon ungläubig aus.

„Na“, lächelte Said ihn an, „Gott hat uns für diese Zeit geschaffen und darum auch mit den Talenten ausgestattet, die es auf Erden brauchen wird, in der letzten Zeit, um auf andere zutreten zu können, die sich nicht trauen, was wir uns trauen.“

„Hier oben zu sein und das als Wahrheit anzunehmen?“, fragte Ramon, gespannt wie ein Flitzebogen.

Und noch ehe es Said aussprechen konnte, durchwanderten jene Zeilen Ramons eigenen Kopf, die er auf Erden jemals schön gefunden hatte.

„Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie neidet nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie benimmt sich nicht unanständig, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit; sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles“, vertonte Ramon.

„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und der Engel rede, aber keine Liebe habe“, nickte Said,

„… so bin ich wie eine schallende Zimbel geworden“, ergänzte Ramon.

„Dafür war Toni da“, flüsterte Said, „denn Gott wird uns alle am Ende unseres Lebens fragen: Hast du gelernt zu lieben?“

„Und warum dann Toni?“, fragte Ramon, der spürte, wie sein Herz wild zu schlagen begann.

„Sie hat sich dir immer wieder widersetzt, deinen Wünschen und deinem Stolz“, senkte Said seinen Kopf, denn es war manchmal schwer, eine Wahrheit auszusprechen, die sich nicht so gut anhörte und dem anderen oftmals zu schaffen machte.

Aber Said wusste auch, dass diese Wahrheit, also letztlich Jeschua, vollkommen frei machte.

Warum dann Ruach und auch Jeschua wieder auf den Plan treten mussten, um in dieser schmerzhaften Phase den Menschenkindern nahe zu sein und sie zu halten, wenn sie begannen, sich selbst und was da in ihnen war, anzusehen. Was Kraft und auch Nerven kostete. Was manche alles kostete.

„Sie hat sich was?“, fragte Ramon folgerichtig einen Said, den er eigentlich ganz nett fand.

Also so nett, dass er sich durchaus gerne mit ihm auch über andere Dinge unterhalten hätte.

„Ohne dass du es so genau bemerkt hast, hat sie sich dir und deinen Wünschen widersetzt“, wiederholte Said, der Toni ebenfalls sehr mochte.

Wie eine Schwester war sie ihm geworden. Er konnte nicht vergessen, was sie über ihm ausgesprochen hatte und wie Toni ihm, natürlich gemeinsam mit Jeschua, seine Familie gezeigt hatte, hier oben, und wie sie auf Geheiß der Direktorin anderen Kindern aus deren Lebensbüchern vorgelesen hatten, was einfach nur herrlich gewesen war. Und das auch darum, weil sich Toni letztlich nicht von anderen beirren ließ, so seltsam das auch manchmal anmutete oder wie anstrengend das für andere sein konnte.

„Wem hast du vertraut?“, fragte auch Said. „Was hast du geglaubt, nicht zuletzt über dich?“, flüsterte der Junge, der es sehr genau sah.

„Oh mein Gott“, entfuhr es Ramon ungewohnt scharf und diesmal eher mit Ehrfurcht, denn dies ‚Oh mein Gott‘, abgekürzt ‚OMG‘ war in ihrem Sprachgebrauch allerorten üblich, ohne irgendetwas damit zu meinen.

Geschweige denn, einen lebendigen und ernsthaften Gott mit den eigenen Worten ins Spiel zu bringen. Einen, der sich Ramon hier oben immerhin selbst vorstellte.

„Dieser Gott steht lebendig vor dir“, nickte Said. „Also natürlich nicht ich“, lachte er heiter auf, „aber Jeschua, Gott Vater und Ruach, die Drei zusammen sind der Gott, der dich hält, immer gehalten hat und der letztlich wollte, dass du zu ihm zurückkehrst.“

In diesem Moment wurde Ramon so seltsam zumute, dass sich seine Augen zu drehen begannen und in seinem Herzen ein regelechter Trommelwirbel losbrach.

„Es geht nicht um Toni“, wiederholte Ramon, dem war, als drehe sich auch Said vor seinen Augen mehrmals im Kreis.

„Es ging darum, dass du mit Toni schon durch das Ewige Tor geschritten bist, das Löwentor in Jerusalem, Gottes heiliger Stadt“, nickte Said.

Daran konnte sich Ramon gut erinnern, allerdings hatte er es damals einfach nicht verstanden. Mit einem Mal begannen seine Gedanken frei zu drehen, sodann sein Herz und schließlich sein gesamtes Sein. Bis Jeschua kam, eingriff und „Stopp“ sagte.

Nicht anders, als er es bei Stürmen tat, den innerlichen wie den äußerlichen.

„Stopp“, hob Jeschua seine Hand, auf dass Ramons Gedanken aufhörten, Karussell mit ihm zu fahren.

„Danke“, flüsterte Ramon und konnte Jeschua diesmal besser sehen. „Danke“, wiederholte er, wobei ihm seine Kinnlade herunterklappte, da er erstmals begriff, wer dieser Mann in Weiß war.

Der Sohn Gottes. Also der Weg, der ihn dorthin bringen sollte, wohin sich Ramon zeitlebens gesehnt hatte.

„Kannst du Toni vergeben?“, fragte Jeschua.

Ramon zögerte, denn irgendwie fürchtete er, dass seine Gedanken und Gefühle wieder zu kreiseln begannen, bis ihm schlecht werden würde. Allerdings ging es ihm in diesem Nichtverzeihen auch nicht wirklich gut.

„Ja“, atmete Ramon schließlich aus und blickte auf Said, der lächelte.

„Kannst du auch mir vergeben?“, fragte ihn der Sohn Gottes persönlich.

„Was?“, entgegnete der Junge, dem sehr seltsam zumute war.

„Dass ich anders bin als du erwartest hast“, antwortete Jeschua, wobei Ramons Kinnlade ganz herunter klappte.

„Was habe ich erwartet?“, fragte Ramon heiser.

„Dass ich dich bestrafe“, entgegnete Jeschua, der wusste, wie sehr sein Kind taumelte.

Was ein Taumel gewesen war, von dem sich Ramon insgeheim gefragt hatte, wie tief er fallen würde.

„Mich bestrafen?“, ploppte es aus ihm heraus.

„So wie ihr Menschenkinder gerne andere bestraft“, nickte Jeschua.

„Oh mein Gott“, wiederholte Ramon, dem die Knie versagten.

Wobei er sich auch daran erinnern musste, dass es in der Bibel hieß, irgendwann würden alle Menschenkinder ihre Knie vor Gottes Sohn, also vor Jeschua beugen.

„Du warst mit mir und Toni in der neuen Stadt“, fixierte Jeschua den Jungen mit seinem Blick, durch den er ihn hielt, sodass Ramon nicht fallen konnte.

Jedenfalls nicht so, wie es der Widersacher vielleicht gefordert oder hatte umsetzen wollen, durch äußere und innere Umstände. Oder durch Menschen, die Hand in Hand mit dem Widersacher das einzuleiten versuchten, was nicht gut war. Für niemanden.

„Ich war mit euch dort“, stammelte Ramon, der plötzlich Sternchen vor sich aufblitzen sah.

„Sie hat es versucht“, nickte Jeschua ihm zu. „Sie hat versucht, dich in das Größere einzuladen.“

„Und ich habe es nicht bemerkt“, senkte Ramon wie gewohnt seine Schultern.

„Das macht nichts“, flüsterte Jeschua, trat auf ihn zu und erhob sein Kinn, sodass ihm Ramon mitten in die Augen sehen konnte.

In Augen der Liebe und der Anteilnahme. In Augen des Respekts und der Würde, was fast allen Menschenkindern auf Erden durch Stolz und infolgedessen Gewalt anderer genommen wurde.

„Das macht schon was“, begann Ramon auf seinen Beinen zu wackeln, woraufhin Jeschua ihn rasch in den Arm nahm, um ihn zu beruhigen. „Habe ich gedacht, ich stehe über ihr?“, flüsterte Ramon dicht an Jeschuas Herz gedrückt.

„Sie hat dich mitgenommen“, entgegnete Jeschua leise.

„Wobei ich dachte, dass ich sie dorthin gebracht hätte?“, überlegte Ramon und hob seinen Kopf.

„Wobei du dachtest, du stündest über ihr und könntest sie sonst wohin bringen“, antwortete Jeschua.

„Dabei hat sie das gemacht?“, stotterte Ramon.

„Das, was ihr oft bei den Kindern nicht bemerkt, die in euren menschlichen Augen tiefer stehen, mit ihrem Herzen aber tief in Gott verankert sind, wohin sie euch mitnehmen wollen“, flüsterte Jeschua.

Diesmal unterließ es Ramon ‚Oh mein Gott‘ auszusprechen.

„Ich muss mich setzen“, stammelte der Junge stattdessen.

„Ich lasse dich nicht fallen“, setzte ihm Jeschua entgegen und hielt ihn unerschütterlich fest.

„Warum?“, fragte Ramon scheu.

„Weil Stolz diesem Reich der Gerechtigkeit, uns und all diesen Kindern entgegensteht, die Gewalt und Hohn, Spott und Todesbedrohung überlebt haben“, antwortete Jeschua sanft.

„So wie du“, flüsterte Ramon.

„So wie ich“, bestätigte Jeschua. „Und wenn ihr das verstanden habt sozusagen, es euch nicht mehr wichtig ist, über den Schwächsten zu stehen, also es vermeintlich zu tun, was ihr nicht könnt, da ihr alle gleich vor meinem Vater seid, werdet ihr Einlass finden in das Reich der Gerechtigkeit, wo alles aufgelöst ist, was euch belastet hat und ihr in Folge dessen ebenfalls Schwierigkeiten habt zu leben, losgelöst und in aller Freude, was Leben im Überfluss bedeutet.“

„Aber sie wollte das für mich?“, fragte Ramon scheu und spürte, wie ihn Jeschua erneut fest an sein Herz drückte und nickte. „Gut“, sammelte sich Ramon rasch wieder, „dann will ich jetzt auch Teil der Band sein. Lehre und leite mich, Jeschua, denn ich fürchte, ich kann das nicht allein.“

„Dann wirst du jetzt ebenfalls höher und tiefer kommen“, lächelte Jeschua, was Ramon vorkam, als gehe die Sonne über ihm oder gleich mitten in seinem Herzen auf. „Dann wirst du jetzt Miterbe sein“, erklärte Jeschua, was Roman vorkam, als sei der Sohn Gottes die Sonne selbst.

„Ich will“, nickte Ramon und blickte in die Augen dessen, in denen Schuld, Scham und Schande in dem Bruchteil einer Sekunde gänzlich aufgelöst wurden.

Das, was das größte Hindernis zwischen Gott und seinen Kindern war und meist aus Stolz geschah. Aus jenem Stolz heraus, der seinen Ursprung in Verletzungen hatte, die Jeschua allen Menschenkindern nehmen konnte. Das geschah hier oben. Und um das zu erleben, was einigen wie ein Traum vorkam, sollten sie dorthin kommen, wo das Unmögliche möglich war.

„Herzlich willkommen“, lächelte Jeschua sein Kind an, „nun werden wir beginnen, all das vorzubereiten, was es braucht, um andere ebenfalls hierhin zu holen.“

„Ich bin bereit“, atmete Ramon schwer aus und streifte Said mit seinem Blick, der ihn anlächelte. „Danke“, nickte Ramon ihm zu. „Danke, Jeschua“, fasste Ramon diesen bei seiner Hand, wobei er sehr genau das Loch in dessen Handfläche fühlte, dort, wo Jeschua aufgehängt worden war.

Aus Stolz. Nicht etwa, weil Jeschua stolz gewesen wäre, sondern diejenigen, die ihn wie einen Verbrecher dem Kreuz überantwortet hatten. Was Menschen immer und immer wieder taten, weil sie richten wollten und dachten, richten zu können, auch über jene, die für das Unrecht, das ihnen geschehen war, keine Schuld trugen. Denen einfach nur rohe Gewalt angetan worden war. All das verstand Ramon mit seinem Verstand, mit dem ihn Gott Vater gesegnet hatte, in Millisekunden. Jede Schuld, von wem auch immer, und damit jeder Fluch und auch Stolz, wurde durch Jeschua, also durch seine Errungenschaft am Kreuz, aufgehoben. In seinem Namen – in Jeschuas Namen. So, wie sie Gott bitten sollten, dass es geschehe – erst im Himmel, und sodann auf Erden.

„Es tut mir leid“, flüsterte Ramon, „entschuldigt bitte, alle“, murmelte er und blickte wieder zu Boden, sodass Jeschua erneut sein Kinn anhob und sprach: „Du kannst nicht tiefer fallen als in meine Hand. Und glaube mir, ich habe einen Plan für dich. Einen guten Plan übrigens, der Zukunft heißt. Zukunft hier bei uns, was Leben im Überfluss bedeutet, wenn du uns glaubst und vertraust. Selbst dann, wenn du nicht alles sehen oder umfassend verstehen kannst.“

„Ich glaube“, nickte Ramon und fühlte sich wie um Zentner erleichtert.

„So wird dir geschehen“, lächelte Jeschua. „Und nun feiert schön, denn es ist Schabbat heute“, nickte der Sohn Gottes Ramon mit einer Liebe zu, die diesen zum Schluss fast doch noch umgehauen hätte.

Doch da nahm Ramon schon Ruach wahr, die sich leicht wie ein Hauch um sein ganzes Sein gelegt hatte und ihn hielt. Und nicht nur das, sie wog ihn auch, wie eine Mutter ihr Kind in den Armen hielt und ihm zusprach, dass alles gut werden würde. Was Ramon so sehr tröstete, dass er sich angenommen und geliebt fühlte. Unabhängig davon, was zuvor gewesen oder nicht gewesen war. Losgelöst auch davon, was er zuvor über sich selbst, über andere oder von den Dreien gedacht hatte. Das alles wurde hier so schön aufgehoben, dass sich Ramon ein Herz fasste und auf Toni zutrat, die mit der Direktorin Ephania Lopez gerade wieder die Halle für das nächste Fest schmückte. Die hatte Toni gut vorbereitet, denn ihre Stunde hieß, dass Toni nicht mehr so verachtet und gedemütigt werden würde wie zuvor. Darüber hinaus würde sie das anderen vermitteln können, denen ähnliches geschehen war. Jenen, die gelitten hatten, wie Toni gelitten hatte, wie Jeschua gelitten hatte und wie die meisten hier oben gelitten hatten. Aber wie im Himmel, so wurde das ebenfalls auf Erden aufgelöst, sodass Toni ihr Dasein über alle Maße zu genießen begann, wie auch die Drei, die ihr das entgegenbrachten, was ihr auf Erden abhandengekommen war: wertgeschätzt zu werden. Einen Wert zu haben. Nicht verworfen oder weggeworfen zu werden. Kein Schattendasein in der Pracht und Herrlichkeit anderer zu fristen, die sich überlegen fühlten. Das alles ging durch den Christus nicht mehr, da sie diesem Gott heilig waren, was hieß, wiederhergestellt und vollkommen ganz zu sein, so, wie Gott sie vor Urzeiten geplant und geschaffen hatte. Und das ausnahmslos, was bedeutete, ohne Unterschied. Den Unterschied machten Menschen. Die, die glaubten, richten zu können und richten zu dürfen. Aber all diese Urteile hatten hier oben keine Gültigkeit mehr. Jesus selbst hatte das alles aufgelöst. Für immer und ewig. In dem Einen, der alles war.

Jeschua war Gottes absolutes Opferlamm. Jede Sünde, was übersetzt ‚menschliche Fehl-Leistung‘ hieß und bedeutete, das Ziel verfehlt zu haben, mit Gott zu leben, war in und durch Jeschua aufgehoben. Irgendwann würde das Gott allen zugänglich, also sichtbar machen, den Kleinen wie den Großen, den Mächtigen wie den Schwachen. In Herrlichkeit und im Angesicht des Höchstens, der sich an seinen Kindern erfreute wie sich diese an ihm. Was sie ihm sagten und zeigten, wenn sie hier oben die Partys feierten, nach denen sich so viele Menschenkinder unten auf der Erde ebenfalls sehnten. Die Tür war der Christus, der sie hierhin holte, wofür Toni ihr Leben lang dankbar sein würde. Wie darüber, dass Ramon nun auch zur Band gehören wollte.

Auszüge aus ALLEN Geschichten

Kapitel I des Romans Sommerröte von Isabelle Dreher

Als die Flut kam

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Streifen der Zerrissenheit

Ohne es zu wollen, blickte Ceija auf die Wundmale des Mannes, der am Kreuz hing. Er war aus Holz und sah nicht gut aus. Eigentlich hatte sie sich nur eine kleine Auszeit von dem Geräuschpegel im Zelt, nehmen wollen den

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Du musst für Gerechtigkeit sorgen

Joshua kam nach einer kräftezehrenden Nacht um zehn Uhr morgens in einem Staat an, der Religionsfreiheit im Grundgesetz verankert hatte. Da er eine Kippa trug, die hierzulande wohl selten zu sehen war, freute er sich, in Berlin Frauen mit Kopftüchern

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Liebe und Gleichgültigkeit

Samstagabend hatte Helena alle zu einem Festessen geladen, von dem sie sich auch versprach, dass Max auf die ein oder andere Weise mit dem Wachstum ihrer Familie fortan klarkommen, wenn nicht gar Frieden schließen würde.

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Im Zeichen der Selbstverherrlichung

„Sehen Sie“, begann Frau Kalkstein.
Helena, die wirklich gut zuhören wollte, blickte auf den Mund der Frau und war einige Zeit damit beschäftigt, zu überlegen, woran sie dieses ‚Sehen Sie‘ erinnerte.

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„Einer hat mehrere Menschen mit Migrationshintergrund umgebracht und dann sich selbst“, informierte Nourina ihr Gegenüber, das neben ihr saß und konzentriert die Wirtschaftsmeldungen der vergangenen Stunden durchging.

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Als sie erwachte, musste Nourina so fürchterlich husten, dass ihr war, als bekomme sie keine Luft mehr. Nachdem sie sich aufgerichtet hatte und wieder atmen konnte, blickte sie sich in ihrem Schlafzimmer um und dachte darüber nach, was sie alles

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Kapitel Glaube ist eine Waffe Roman Winterfachen von Isabelle Dreher

Glaube ist eine Waffe

„Wie war denn dein Tag?“, fragte Ilay seine Frau, nachdem er alles gegeben hatte und sie in seinen Arm zog, nicht anders als es der Christus getan hätte.
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Reglos stand das Mädchen vor der Müllkippe. Mit geschlossenen Augen nahm es den Geruch von Abfall, Verwesung und Eisen wahr. Wie ein Brechmittel kam ihr das vor.

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Das Buch deines Lebens

„Ist das Eden?“, fragte Toni, als sie mit ihm durch das herrliche Tor schritt.
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GoldenTor-Geschichte Bei uns gelten andere Gesetze

Bei uns gelten andere Gesetze

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Steigt herauf

Ephania Lopez war ganz Gastgeberin und begrüßte allesamt herzlich. Es waren etwa dreißig Kinder gekommen, über die die Direktorin vorher schon mit den Dreien gesprochen hatte.

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Kapitel Wie eine Wand GoldenTor-Geschichte von Isabelle Dreher

Wie eine Wand

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Kapitel Wieder vereint GoldenTor-Geschichte von Isabelle Dreher

Wieder vereint

Alisha und Ramon blickten sich erstaunt an und folgten dann Jeschua und Ruach. Toni blieb etwas ratlos zurück. Nach allem traute sie sich kaum zu fragen: Und was ist mit mir? Ihr Herz machte solch einen Lärm, den Gott Vater

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Kapitel Macht euch bereit

Macht euch bereit

Als Toni am nächsten Morgen in ihrem Zimmer im Schloss aufwachte fühlte sie, dass etwas tief in ihr wieder ganz war. Sie freute sich auf das Frühstück, auch wenn sie ihre Freunde aus dem Ferieninternat vermisste. Dafür war Alisha da.

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GoldenTor-Geschichte In einer Zeit wie diese

Die goldene Stadt

Nachdem Toni die Zeit ganz verloren hatte, nahm sie lichtdurchflutete Engel zu beiden Seiten des Weges und an den Seiten zum Eingangstor wahr. Darüber war eine goldene Tafel angebracht und auf der stand ‚Jeru Schalim‘, was so viel hieß wie

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Kapitel An einem verborgenen Ort GoldenTor-Geschichte von Isabelle Dreher

An einem verborgenen Ort

Nach einem ereignisreichen Abend wachte Toni gut gelaunt in ihrem Zimmer im Schloss auf. Mit Jeschua, ihren FreundInnen aus dem Internat und Alisha, ihrer Zimmernachbarin, wollte sie eine Band gründen.

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Kapitel Siehe ich mache Neues GoldenTor-Geschichte von Isabelle Dreher

Siehe, ich mache Neues

Wie geduscht wachte Toni am kommenden Morgen auf und fand sich dem gegenüber, der sie wie eine Pflanze bewässerte.
„Wunder“, strahlte sie Jeschua an, „du tust Wunder über Wunder.“
„Nun bist du kein Waisenkind mehr“, strahlte der Strahlende

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