In der Finsternis – Sommerröte
Lissy kniete auf dem Boden und dachte an ihren Pokal. Sie sehnte sich nach einem menschlichen Geräusch, nach einer menschlichen Stimme, die Gutes zu ihr sprach. Doch da war nichts als das kalte Echo der Mauern, das nackte Grauen vollkommener Finsternis. Nichts als Stille umgab das zehnjährige Mädchen, das in einem Gefängnis kauerte, von dem es überall auf der Welt so viele gab, dass sie kaum noch zu zählen waren. Ohne Rechte, ohne Bildung und ohne jeglichen Zuspruch. Mit nichts als einem Trauma in sich, das mehr zählte als Leben. Ihr nacktes, schlichtes Leben in einer Welt, in der nichts mehr wert war als Geld. Scheine, die über den Tisch gezogen wurden, wenn sie für den nächsten Kunden bereitgestellt wurde. Mit nichts als schwarzen Dessous auf ihrer Haut, bunten Farben auf ihrem Gesicht und einem Lidstrich, der an ägyptische Königinnen erinnern ließ. Mit einer Kindheit, die nie begonnen hatte. Und einem Ende, das für sie nicht mehr absehbar war. Ihre Nahrung war warten. Warten, bis sich die Tür öffnete und man sie mit dem Nötigsten versorgte. Warten, bis sich die Tür erneut öffnete und der nächste Freier hereintrat. Mit einem Herzen, das nicht mehr schlug, wenn sich die Gewalt wieder und wieder in ihrem Innersten breitmachte. Von Kameras beobachtet, die das Material in alle Welt versandten. Mit einem Stauraum an Blut in sich, das nach Erlösung schrie. Was Lissy schon lange nicht mehr tat. Es war sinnlos. Ihr Leben war vollkommen sinnentleert. Da war nichts. Nicht einmal der Hauch von irgendetwas. Als sie zu frösteln begann, setzte sie sich auf die Pritsche und sehnte sich nach dem, was sie einst ausgemacht hatte. Die Pokale ihrer Familie. Triumphe im Reiten, die besonders ihre ältere Schwester Cecilia errungen hatte. Aber auch sie selbst. Als Jahrgangsbeste. In Freiheit. Doch der Vater hatte sich mit den Rennpferden verkalkuliert, sodass Lissy gegen Geld fortgegeben worden war. Plötzlich tauchte vor Lissys Augen ihre Mutter auf. Eine herbe Schönheit, die ein Gewand aus schwarzen Federn trug. An zahlreichen Federn hingen schwarze Zettel mit Lügen darauf. Lügen über die Familie, Lügen über sich und Lügen über Lissy. Lügen über Wohlstand und Ehre, Lügen über Sieg und Niederlage und Lügen über Gott und die Welt.
Lissy galt als entehrt, seit ein Onkel sie berührt hatte. Es war nicht einmal ein richtiger Onkel gewesen, sondern einer, der die Deals für ihren Vater eingefädelt hatte. Bis er mit den falschen Leuten dealte. Und mit Lissys Leben bezahlte. Überwältigt von den Erinnerungen an die Geschehnisse seither schloss Lissy ihre Augen. Zu ihrem Erstaunen fand sie sich Augen gegenübergestellt, die sie anblickten.
„Ich sehe dich“, sagte eine Stimme leise zu ihr.
Sie war verrückt. Das hatten sie zu Lissy gesagt, als die begonnen hatte, von den verstörenden Geschehnissen zu erzählen, die der falsche Onkel ihr angetan hatte. Ab da gehörte sie nicht mehr zu der ehrbaren Familie, hatte sie zu hören bekommen. Ihre Schwester hatte zu weinen begonnen, denn auch sie war nicht verschont geblieben. Sie hatte einfach nur geschwiegen, die Lügen gedeckt und ihre Last ebenfalls auf Lissy gelegt, als sie bestätigte, Lissy mit dem Onkel in der Scheune gesehen zu haben. Ab da war Lissy fortwährend zusammengebrochen. Und damit war etwas in ihr zerbrochen, was man hätte Hoffnung nennen können. Hoffnung auf Gerechtigkeit und Hoffnung auf einen Ausweg. Damit war ihr Todesurteil besiegelt worden. Nicht dass sie sie umgebracht hätten, wofür ihnen Lissy noch dankbar gewesen wäre. Nein, sie hatten sie in die anderen Hände gegeben, unter denen sie täglich starb. Seelisch und mental. Nachdem Lissy ihrer Familie gegenüber ausgepackt hatte, wozu andere Menschen fähig waren, galt sie nicht nur als verrückt, sondern auch noch als dumm. Damit war sie wertlos geworden. Die Summe von 10.000 Dollar schienen da noch ein angemessener Preis, das zumindest versicherte der falsche Onkel der Familie, wonach sich ihre Mutter wieder ein Lügenkärtchen an den Saum ihres dunklen Federgewandes geheftet hatte. Und auf dem stand bis heute: Lissy ist eine nichtsnutzige Dirne, die es nicht besser verdient hat. Damit war Lissy vogelfrei gewesen. Der Vater hatte sein Urteil schon längst gefällt: Lissy musste weg, um diese vermeintlich erhabene Familie nicht zu entehren. Gut, wenn sie überhaupt noch ein paar Kröten für Lissy, die Entrechtete und Entehrte, bekamen.
Irgendwann war Lissy in diesem Loch gelandet. Nach einer Reise, die eine einzige Tortur gewesen war. Hände um Hände, die nach ihr gegriffen hatten. Rotlicht nach Rotlicht, in das sie getaucht worden war. Wut, Brutalität und Gehorsam, in was sie geworfen worden war. Ihre Schreie verhallten mit jedem 24-Stunden-Takt immer mehr. Bis sie ganz gebrochen wurde und alles über sich ergehen ließ. Wirklich alles, denn alles zählte ab da gar nix mehr. Sie selbst zählte nicht einmal mehr die Sekunden, bis es zu Ende war. Sie hatte einfach aufgehört zu existieren. Und mit ihr alles, was ihr jemals Wert gewesen war. Wenn der Tod Erlösung war, dachte Lissy noch, ehe sie wieder weg glitt, dann nahm sie auch den in Kauf.
„Ich sehe dich“, hörte sie wieder die Stimme in einer Finsternis, die unbeschreiblich war.
Lissy wollte keine Stimmen mehr hören. Die sagten ihr alle nix Gutes. Und wenn, ging es nie um sie, sondern immer nur um die anderen. Und erhob sie ihre eigene Stimme, konnte Lissy sicher sein, dass sie einen derartigen Kinnhaken verpasst bekam, nach dem sie sowieso kein Wort mehr herausbrachte. Wozu auch? Es hörte ihr eh niemand mehr zu. Und wenn sie selbst noch irgendetwas zuhörte, dann waren das ihre vor Schmerz pochenden Körperstellen, die sie um den Verstand brachten. Jeden Tag etwas mehr. Am Anfang hatte Lissy noch in die Stille geschrien. Aber jetzt tat sie nicht einmal mehr das.
„Der König wünscht dich zu sehen“, sagten sie manchmal zum Auftakt und meinten damit den nächsten fetten und stinkenden Freier, der Scheine auf den Tisch legte, um einen weiteren Horrorfilm zu starten.
Lissy schloss die Augen. Es war dann zwar auch nicht viel finsterer als sonst, aber wenigstens war sie dann ganz allein mit sich selbst. Dann konnte sie alles ausblenden. Manchmal schrie sie ein Freier an, sie solle ihn gefälligst ansehen, was Lissy mit Todesverachtung tat und durch ihn hindurchblickte, als existiere er gar nicht. Den Freiern war das für gewöhnlich völlig gleichgültig. Hauptsache, Lissy tat wie ihr geheißen. Einfach nur um sicherzustellen, wer Herr im Palast war: ihr Ego. Was jene Freier auf die ein oder andere Weise zu befriedigen gedachten.
Eine Form war Lissy und die Millionen anderen Kinder in dieser Situation überall auf der Welt. Aber auch das interessierte Lissy nicht mehr. Sie kannte sie ja nicht einmal, diese anderen Kinder. Eigentlich hatte sie keine Ahnung davon. Dass sie wie sie irgendwo vergraben existierten. Vor aller Augen verborgen. Abgeschnitten von allem, was man Leben nennen konnte. Auch wenn Lissy noch sehen konnte. Die Finsternis und die Lichtstreifen, wenn irgendjemand hereintrat. Aber wer genau das war, interessierte Lissy schon lange nicht mehr. Schließlich ging es niemals um sie. Das hatte sie sich schon am kommenden Tag, den sie hier angekommen war, abgeschminkt. Die meiste Zeit über fühlte sie sich sowieso nackt. Völlig entblößt und entgeistert. Das hier war sowieso nix anderes als eine reine Geisterfahrt, die mit nichts anderem als ihrem Tod enden würde. Und auf den würde sie jetzt eben warten. Was sollte sie auch anderes tun? Von einer fernen Zukunft träumen, wo es so etwas wie Gerechtigkeit gab? Sollte sie, fragte sich Lissy, als sie irgendwie das Gefühl hatte, dass sich die Luft in ihrem Kerker änderte, an eine Zukunft für sich glauben? Oder hatte jemand gerade ein Fenster geöffnet? Gab es hier eine Tür, die niemand kannte? Die sie finden würde? Gab es doch noch so etwas wie ein Entrinnen? Einen Weg raus?