Kapitel Ungezählte Destinationen Roman Winterfachen von Isabelle Dreher

Ungezählte Destinationen – Winterfachen

„Einer hat mehrere Menschen mit Migrationshintergrund umgebracht und dann sich selbst“, informierte Nourina ihr Gegenüber, das neben ihr saß und konzentriert die Wirtschaftsmeldungen der vergangenen Stunden durchging.

Eigentlich hatte Clemens die Stellenanzeigen durchgehen wollen. Andererseits war es nicht sein Fehler gewesen, sondern der der Bank, auf die ihn die andere Seite, also die Geschäftsleute in Israel, aufmerksam gemacht hatten, nett gesprochen.

„Aha“, machte Clemens und blickte kurz auf die Frau neben sich, die sich trotz allem nicht von ihm abgewendet hatte. 

Was genau sie von ihm wollte, interessierte ihn nicht. Nur dass sie etwas von ihm wollte war von Belang. Zu welchen Konditionen auch immer. Bis zu welcher Neigung er sie bringen konnte, würde er noch herausfinden. Die kommenden Stunden allerdings waren erst einmal Rückreise und damit Rückzug angesagt.

„Und jetzt wollen sie alle was gegen Rassismus machen“, fuhr Nourina unbeirrt fort, als das Flugzeug startete und er sich überlegte, welche Worte er als nächstes seinem Chef entgegenhalten würde.

Ob mit oder ohne Drohungen. Zu gehen und sämtliche Machenschaften offenzulegen oder zu bleiben und dafür quasi als Mitarbeiter hochgestuft zu werden.

„Das ist schon schlimm, Menschen einfach in den Kopf zu schießen“, wurde Nourina nicht müde, dem fremden Mann neben sich ihre Gedanken mitzuteilen.

Clemens zumindest hatte sich Nourina am Morgen wohlig entgegengestreckt und sogar die goldene Kette angenommen, was sie mit einem flüchtigen Lächeln auf ihren Lippen quittiert hatte, da sie fälschlicherweise davon ausgegangen war, nun sei ihre Verbindung offiziell. Ein Fehler, an den sich weitere Fehler heften würden. Erst einmal verbat es sich Clemens wortlos, dass sie ihn weiterhin mit sämtlichen irdischen Horrormeldungen der vergangenen Zeit versorgte. Auch das Coronavirus, das ihn an Bier erinnerte, musste warten. Das nächste Ungeheuer, das sich erhoben hatte, um die Menschheit zu vernichten. Im Flugzeug jedenfalls war davon nichts zu spüren, sodass er den Kopfhörer aufzog und sich von ihr innerlich wie äußerlich abzuschotten begann. Was Nourina genau registrierte, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Alles, was von ihrer Unterhaltung und den vergangenen gemeinsamen Stunden blieb, war ein ungemütlicher Schmerz, der sich in ihrer Brust auszudehnen schien, ebenfalls wie ein Virus, das sich bei Nourina zu einem Fieberwahn entwickelte, als sie in der großen Flughafenhalle angekommen waren und er sie unter der überdimensionierten Tafel mit den unzähligen Destinationen einfach stehenließ.

„Ich muss“, lächelte Clemens sie an, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und lief schnurstracks zum Ausgang.

Alles, was sie von dem Mann ihrer Begierde daraufhin sah, war sein dunkler Mantel und seine rechte Hand, die sich erhob, um ein Taxi herbeizuwinken.

Ratlos blickte sich Nourina um und versuchte, irgendeine Aufmunterung in den Gesichtern der anderen Reisenden aufzuspüren, um sich selbst ein wenig erfreuen zu können. Doch die Berliner waren unter anderem für ihre schlechte Laune bekannt, die sich über Nourina nicht anders als ein schwarzer Mantel legte. Mit schleppendem Schritt schleifte sie sich selbst über den gebohnerten Boden und versuchte im antiseptischen Bad, mit ihren Gefühlen klarzukommen. Aber auch das eiskalte Wasser in ihrem Gesicht zeigte nicht die ersehnte Wirkung außer der, dass ihre Schminke verwischte und sie jemand anblickte, dessen Haut so fahl und bleich schimmerte wie bei jemandem, der dem Tode nahe war. Vielleicht, überlegte Nourina, als sie den Anblick, der ein Anblick ihrer selbst war, nicht mehr ertrug, sollte sie es doch mal mit den Kursen probieren, die in jenem Stadtmagazin so verheißungsvoll geklungen hatten: „Freundschaft mit dem Tod“. Da sie offenkundig weder mit sich selbst noch mit dem Mann ihrer Begierde diese hatte wirklich schließen können, bewegte sie sich mit glasigen Augen gen Ausgang und ließ sich in eines der wartenden Taxis fallen, das sie nach Hause bringen sollte. Erst auf halber Strecke wurde ihr bewusst, dass sie aus Gewohnheit dem Fahrer mit Migrationshintergrund ihre alte Meldeadresse angegeben hatte.

„Entschuldigen Sie bitte“, versuchte sich Nourina vom Rücksitz aus Gehör zu verschaffen, was in dem leisen Fluchen des Mannes über den Stadtverkehr unterzugehen schien.

Unter Umständen, dachte die junge Frau, als sie einen nächsten Anlauf startete, war sie nicht mehr das Alphatier, als das sie sich während ihrer Jugendzeit betrachtet hatte. „Entschuldigung“, quetschte sie sich zwischen die beiden Vordersitze, „ich muss nach Mitte, diese Adresse hier“, schob sie dem Fahrer einen Zettel durch die Lücke, den jener leicht irritiert in Empfang nahm und auf seinem Oberschenkel schräg beäugte.

Ab da unterhielten sie sich auf Englisch. Über seine Kinder und ihr Pferd. Bis das Gefährt endlich zum Halten kam und Nourina inzwischen schweißgebadet aufstand, ihm den Schein für die Reise durchs Fenster reichte und unsicher die Stufen zum Hauseingang erklomm.

„Are you okay?“, spürte sie seine Worte in ihrem Rücken, die ihr wie Messerstiche vorkamen.

Flüchtig blickte sie sich um und nickte.

Ihre Tränen begannen erst zu fließen, als der Fahrer sportlich angefahren war.

Für einen kurzen Augenblick sah sich Nourina auf der obersten Stufe mit Blick auf die Haustür gezwungen, Rast zu machen, da sie keine Luft mehr bekam. Sie wollte sich nicht schämen. Nicht dafür, dass sie geschieden worden war und auch nicht für die Reise nach Tel Aviv mit ihm. Und doch ahnte sie in den Tiefen ihrer Tiefen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Langsam und ein wenig zitternd erhob sie sich. Am liebsten hätte sie jetzt Dominik angerufen und in den Hörer geschrien: „Mein Leben ist ein Fehler.“ Doch das würde sie sich für einen späteren Augenblick aufheben. Erst einmal musste sie von ihrem Zittern runterkommen. Was sie tat, als sie oben angekommen war und den nächsten Fehler an die vorangegangenen knüpfte. Die Flasche des Selbstgebrannten stand noch immer auf dem Tisch, das Glas war inzwischen von den Resten getrocknet. Mit ihren Lippen entkorkte sie die Flasche und goss sich selbst ein. So lange, bis sie sich beruhigt hatte. Ab da ging sie regelmäßig feiern. Entweder in der babylonischen Kathedrale oder in dem buddhistischen Tempel ein paar Straßen entfernt, wo sie mit einfachen Atemübungen begann. Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen. Mit dem linken Nasenflügel einatmen, mit dem rechten ausatmen. Oder andersherum. Wer auch immer sie anleitete, hatte kaum Vergnügen an ihr. Nach allem, durch was sie inzwischen gegangen war, hatte Nourina Mühe, sich zu konzentrieren oder bei der Sache zu bleiben. Immer wieder schwoll der Schmerz in ihr so vollmächtig an, dass sie glaubte, in den stickigen Räumen zu ersticken. Erst wenn sie den Reitstall betrat, war ihr, als bekomme sie wieder Luft. Doch da sie inzwischen der Unregelmäßigkeit ihres Lebens in Ermangelung eines zumindest von außen vorgegebenen Rhythmus zum Opfer gefallen war, hatte sie ihrem Pferd zuliebe eine junge Reitschülerin ausgesucht, die sich fortan täglich um den Hengst kümmerte. Warum sie auch dort nur noch als Gast erschien. Bis sie sich bald kaum mehr traute, selbst in den Sattel zu steigen. Und auch sonst vermied sie jeglichen Kontakt, als sei sie unfähig, eine Verbindung zu ihrer Umwelt aufzunehmen, um nicht in die nächste Katastrophe zu stolpern. Warum sie sich auch nicht bei Clemens meldete. Bis der am übernächsten Wochenende eine Nachricht an sie richtete.

„Hi“, schrieb er einfach. 

Da Nourina die vergangenen Tage nur mit dem Päckchenboten und einigen Frauen im buddhistischen Tempel wenige Worte gewechselt hatte, freute sie sich darüber, dass er sich überhaupt bei ihr meldete.

„Lust auf ein Abendessen im Gründerichs?“, las sie weiter.

Das Wort „Lust“ fiel ihr schon auf wie der Umstand, dass ihr Herz wild zu pochen begann. Nach immerhin sieben Worten des Angebeteten. Wieder versuchte sie in Sekundenschnelle zu entscheiden, was das Beste sei. Doch irgendwie hatte ihre gesamte Lebenssituation Nourina derart in einen unsichtbaren Bann gezogen, dass sie sich erst einmal auf ihr Sofa setzen musste, um überhaupt nachdenken zu können. Nachdem sie mehrere Varianten durchgegangen war, wie sie den angebrochenen Abend überstehen konnte, verwarf sie schließlich sämtliche Warnmeldungen ihrer Wahrnehmung, um die Buchstaben auf ihrem Handydisplay zu sortieren.

„Hey, ja klar, wann?“, schrieb sie die Worte in ihre eigene innere Finsternis.

Wieder schien sich ihrer ein Fieberstrom zu bemächtigen, dem sich Nourina seit ihrer Reise mit dem inzwischen Halbfremden nun immer öfter gegenübersah. Ein Strom, der sicher nicht vom Thron eines Höchsten zu ihr floss, wie auch immer dieser Höchste aussah. In dem buddhistischen Tempel war das eine Buddha-Statue von mehreren Metern, original aus Asien nach Deutschland verschifft und dort im Schweiße des Angesichts von wem auch immer eigenmächtig aufgerichtet. Überall gab es Höhere und Tiefere. Und der Kampf darum, wer wo stand und wer letztlich wer sein konnte, schien alles jener Tage zu übertönen, dass selbst Nourina, die immer gerne Fremde kennengelernt und etwas über deren Leben erzählt bekommen hatte, erneut sämtliche Erfahrungen und Wünsche gekonnt über Bord warf und sich wieder allein auf Clemens einließ. Von dem sie spätestens seit ihren kaum mehr abklingenden Schmerzen hätte erahnen können, dass auch dieser Abend nicht unbedingt der glücklichste ihres Lebens werden würde. Aber wie das so war mit Hoffnung – vorher starb alles andere. An diesem Abend zumindest sollte der Rest ihrer Würde vor sich selbst in einem grandiosen Glanz untergehen, wie er ebenfalls den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu eigen gewesen war. In einem flächendeckenden Chaos, das Raum für alles und jeden bot. Damals war es der lang ersehnte Führer gewesen, der wenige Jahre später versucht hatte, eine ganze Nation zu verführen, um eine andere komplett zu vernichten. Ähnlich wie es denen geschehen war, die ehemals aus dem gelobten Land nach Babylon in die Sklaverei geführt worden waren, um letztlich von dem Gott der Juden doch wieder befreit zu werden.

Erst einmal aber zwängte sich Nourina in das nächste Glitzerkleid, drehte sich im Spiegel wie eine Prinzessin, nahm nach reiflichem Überlegen einen letzten Zaubertrunk aus der Flasche vor sich auf dem Tisch und stürzte sich sodann in das nächste Abenteuer, das ihr fast die Sprache verschlagen sollte. Leider wusste oder ahnte Nourina da noch nicht, dass Worte eine ähnliche Wirkung hatten wie Waffen. Und dass Gott nicht zuletzt den Juden mit auf den Weg gegeben hatte, in menschlichen Worten liege sowohl Segen wie Fluch. Letztlich behauptete dieser Gott der Juden, er habe die Welt mit seinem Wort erschaffen, ihnen sein Wort in der Bibel dargelegt und den Befreier in Gestalt des Menschensohnes Jesus in die gefallene Welt gegeben, von der Nourina jemals geglaubt hätte, tiefer als damals könne das menschliche Geschlecht gar nicht mehr fallen. Der nächste Fehler, den sie nicht mehr würde aus eigener Kraft ausbügeln können. So gerne sie auch die Hemden von Clemens gebügelt hätte. Was nicht nötig war, denn jener bediente sich einer gut geführten Wäscherei, die ihren Job mittels Menschen mit Migrationshintergrund für wenig Geld hervorragend erledigte. Aber auch er hatte seinen Job hervorragend erledigt, was der smarte Banker Nourina in seinem hellblauweiß gestreiften Hemd mit steifem Kragen eröffnete, noch ehe sie ihn hätte allein aus Höflichkeit fragen können, wie es ihm gehe. Vermutlich kam er ihr mit seinen Schilderungen allein schon darum zuvor, um sie genau das nicht fragen zu müssen. Wie es ihr gehe und wie es ihr in der vergangenen Zeit ergangen war.

Da den Menschen, besonders den weiblichen Exemplaren, jener Zeit schon im Kindergarten eingetrichtert wurde, dass gut war, was tough war, also ein XX durchaus die Fähigkeiten eines XY haben konnte und als solches in der modernen Welt auch agieren durfte, schluckte Nourina ihre Enttäuschung mit dem trockenen Weißwein herunter und ließ sich fortan einfach gehen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich gegen die Pläne anderer zu stemmen, da sie nicht mehr wusste, welchen von den ungezählten sie selbst verfolgen wollte. Vermutlich war sie im Rudern auch nur darum so siegreich gewesen, weil die Bewegungen in ihrer Konzentration letztlich immer dieselben blieben. Schließlich hatte ihre Kunst ausschließlich darin bestanden, die jeweiligen Abläufe so exakt wie möglich immer gleich zu wiederholen. Unabhängig davon, wie der Wind gerade wehte oder welche Welle unter dem Boot hindurch schwappte. An diesem Abend machte ihr Clemens eine La-Ola-Welle vor, die ihn als Sieger des Geschäfts sowohl in Bezug auf seinen Arbeitgeber als auch gegenüber den israelischen Geschäftsleuten hervortreten ließ. Wobei Nourina bei seiner halbstündigen Abhandlung immer wieder ihre Gedanken ordnen und zum Ursprungswort „Geschäftsleute“ zurückkehren musste, da ihr kurioserweise das Bild von Geheimdienstlern in den Sinn kam. Etwas, das sie immer wieder dazu veranlasste, zwischendrin ein Glucksen zu unterdrücken, was ihr Gegenüber nonchalent überging und davon ausgehen musste, der Wein täte seine Wirkung.

„Jetzt leite ich die Abteilung, stell dir vor“, blinzelte er sie zum Abschluss des Essens aus fast geschlossenen Augen an.

Nourina überlegte, ob er sich dadurch jetzt noch mehr feierte oder ob er angesichts ihres Schweigens langsam mit einem starken Schlafimpuls zu kämpfen hatte.

„Das feiern wir, oder?“, riss Clemens sie aus ihren Gedanken.

„Klar“, nickte Nourina und lächelte ihr Gegenüber reflexartig an.

Er zahlte, sie schob den Stuhl zurück, er holte die Mäntel, sie ließ sich hineingleiten, er bestellte das Taxi, sie ließ sich neben ihn sinken, er öffnete ihr die Wagentür, sie stieg aus, er führte sie an der Schlange vorüber zum Eingang, sie achtete darauf, dass sie in den Stöckelschuhen nicht stolperte, er nickte den Türstehern zu und sie tat alles, um hernach mit ihm Schritt zu halten. An der riesigen Bar, die ihr in der vergangenen Zeit sehr vertraut geworden war, da sie immer öfter der Einsamkeit ihrer Wohnung entflohen war, um sich an diesem Tresen festzuhalten, bestellte er eine gekühlte Flasche Champagner und stieß strahlend mit ihr an. Währenddessen blickte Nourina den Barkeeper triumphierend an, denn diesmal schlug sie nicht allein dort auf, sondern mit einem Alphamännchen, das dieser Rolle  innerhalb der nächsten fünf Minuten alle Ehre machte, indem Clemens schließlich Champagner für fünf weitere Personen bestellte, die er Nourina am Rande flüchtig vorstellte.

Hätte jemand Nourina zu dieser Stunde jene Sequenzen der Überwachungskameras vorgespielt, hätte sie sich schon da für sich selbst geschämt. Zu sehen wäre im Gegensatz zum ersten Treffen eine Frau gewesen, die das Glas gekonnt ansetzte und mit einem Zug herunterstürzte, was mit Feiern strenggenommen wenig zu tun hatte. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt noch nüchtern gewesen, hätte sie es unter Umständen sogar befremdlich gefunden, dass genau die Männer, die Clemens Nourina vorgestellt hatte, sie unverhohlen und unmittelbar vor seinen Augen anbaggerten. Was Clemens zu genießen schien, wie den Glanz, den er verstrahlte. Er musste jemand sein, dachte Nourina noch, als sie ihn ansah und sich ihre Blicke irgendwann wie zufällig trafen. Statt Nourina wie vormals bei seinen eigenen Händen auf die Tanzfläche zu ziehen, zwinkerte Clemens ihr nur zu und nickte dann in Richtung Klo. Benommen folgte sie ihm. Erklären würde sie das später niemandem können. Erst machte sich Clemens in gewohnter Weise an ihr zu schaffen, dann holte er das Päckchen hervor, in dem das schneeweiße Zeug verschweißt war. Da sie es bereits einmal mit ihm getan hatte, wiederholte sie es in Ermangelung eines eigenen Plans wortlos ein nächstes Mal. Diesmal nur war ihr, als sprenge das Substrat ihre Nasenflügel, die sie Stunden zuvor so mühevoll angehalten hatte, tief ein und wieder auszuatmen. Vielleicht hatte sie diese Übungen doch zu gut ausgeführt, jedenfalls platzte hernach ihr Schädel und schienen ihre eigenen Gedanken komplett gesprengt zu werden. Plötzlich sah sie Licht vor sich und sodann Lichtkegel in allen Farben. In einer Lichtkugel sah sie, wie Clemens sie schließlich doch noch zur Tanzfläche schleifte und ihm in der Hitze des Gefechts der steife Kragen platzte. Jedenfalls sah es diesmal nicht so aus, als erläge er einem Herzinfarkt aus Kummer über einen geplatzten Deal. Ganz im Gegenteil. Seine Augen begannen nun erst richtig in dem Lichtermeer der Tanzfläche zu funkeln, als die anderen, noch sehr jungen Männer, an Nourina herumzuschrauben begannen, was diese an Automechaniker erinnerte. Erst nach der zweiten Linie, die Nourina mit Clemens kurz darauf in einem der Hinterzimmer des Feier-Tempels zog, wurde ihr egal, wer sie auf welche Art betatschte. Ab da wurde ihr auch endgültig gleichgültig, wer sie selbst war oder zu was sie inzwischen geworden war. Ein Nichts, das allen entgegen lächelte, als gebe es keine andere Antwort mehr, als zu allem einfach nur noch zu lächeln. Und zu tanzen. In einem Lichtermeer, das nichts anderes als Illusion versprach. In die sich Nourina innerlich bewegungsunfähig begab, nachdem sie erst mit sich selbst und dann mit ihrem Leben abgeschlossen hatte. Und das endgültig. Was sie auf die Abwege brachte, die der innerlich jungen, fast unreifen Frau nicht nur ihren Kragen, sondern ihr gesamtes Leben kosten würden.

Gegen frühen Morgen fand sich Nourina schließlich erneut in einem der Hinterzimmer des babylonischen Feier-Tempels wieder. Diesmal allerdings mit einem der Jungschen, der, zwar die Hand auf ihrer Brust, sie immerhin fragte, für was sie sich eigentlich interessierte. Als Nourina in dem Raum nach Clemens Ausschau hielt, erfasste sie die Situation nicht ganz. Irgendwie rutschte dessen Hand empfindlich an dem Rockzipfel eines sehr jungen Mädchens hoch, sodass Nourina im Schock nach der Hand des jungen Typen auf ihrer Brust griff, sie beiseiteschob und ihn wild zu küssen begann. Auch danach wäre Nourina nicht imstande gewesen, jemandem zu einem späteren Zeitpunkt zu erklären, warum sie tat, was sie gerade machte. Sie konnte es dem gänzlich Fremden kaum anrechnen, dass auch er hernach an ihrem Rocksaum herumzutasten begann, was Nourina dann doch zu viel wurde. Mit hochrotem Kopf stand sie auf, wankte auf Clemens zu und fragte ihn mit brüchiger Stimme: „Was tust du da?“

Clemens blickte sie ruhig an, während er weiter an dem Mädchen herumfummelte und ihr kühl zur Antwort gab: „Ich feier. Nicht anders als du.“

Im Affekt starrte Nourina das junge Ding an und verspürte plötzlich einen solch starken Schwindel, dass ihr die Beine versagten. Mit einem Mal wurde es schwarz vor ihren Augen.

Als Nourina wieder zu sich kam, klopfte ihr Clemens auf die Wangen. Rechts und links, wie sie es von ihren Atemübungen kannte. Doch ihr eigener Rhythmus wollte sich nicht so recht einstellen. Dies war ein Alptraum, befand Nourina schließlich.

„Bring mich nach Hause“, flüsterte sie.

Clemens ließ davon ab, ihr auf die Wangen zu schlagen, hob sie auf, ließ es zu, dass sie ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals schlang und schliff sie durch die Hintertür nach draußen. Die kalte Luft versetzte Nourina den nächsten Schock, sodass sie unkontrolliert zu zittern begann. Ihre Knochen und Zähne schlugen so stark aufeinander, dass sie nicht mehr auch nur ein Wort herausbringen konnte.

„Okay“, machte Clemens, „wir fahren nach Hause.“

Das waren Worte, die Nourina sofort beruhigten.

„Okay?“, fragte er und blickte ihr in die Augen.

Daraufhin fühlte Nourina erneut nichts als Schwindel.

„Okay“, entschied er, griff sie fest unter ihren Achseln und schleppte sie zur Bordsteinkante. 

Dort angekommen winkte er ein Taxi herbei und verfrachtete sie auf den Hintersitz.

„Ich kann jetzt nicht“, hörte sie weitere Worte von ihm an ihr Ohr rauschen. „Mein Team ist da noch drin. Ich kann jetzt nicht einfach abhauen. Aber du bist ja in guten Händen“, lächelte er dem Taxifahrer entgegen. „Sie nennt Ihnen die Adresse“, nickte er diesem zu und hielt ihm einen Schein hin.

„Ich kümmere mich um sie“, gab der Mann mit Migrationshintergrund Clemens zur Antwort, woraufhin der smarte Banker die Tür zuknallen ließ und sich Nourina beim Anfahren fast übergeben hätte.

„Wohin?“, fragte der Fahrer, woraufhin Nourina ihm einen Zettel zwischen den Vordersitzen durch schob und einfach nur noch die Lichter der Stadt an ihren Augen vorüber gleiten ließ.

Auch dies konnte nicht der Tag des Herrn sein, dachte Nourina noch, als sie auch schon angekommen waren.

„Danke“, schmetterte sie dem Fahrer entgegen und ließ die Tür ins Schloss krachen.

Jetzt ist genug, befand Nourina und taumelte die Stufen hinauf. Inzwischen hatte sie endgültig genug von sich selbst und davon, andere zu feiern. Nun musste etwas anderes kommen, sonst würde sie sich gar nicht mehr ins Gesicht blicken können. Was sie jenen anbrechenden Morgen auch nicht tat. Stattdessen lief sie schnurstracks in ihr Schlafzimmer, schloss behutsam die Tür und mummelte sich so tief in ihre Decken ein, dass sie das Gefühl hatte, zwar zu versinken, aber immerhin auf eine Weise, die wohliger als der gesamte Abend war. Den sie gefallen war. Über Clemens. Einen Mann, der nur sich selbst feierte. Und seine Macht. Für den sie überhaupt keine Rolle spielte. Weder nüchtern noch betrunken. So zumindest konnte es nicht weitergehen, entschied Nourina in einem Taumel, den das Bett zu tanzen schien. Mit Tanzen sollte es ebenfalls endgültig genug sein, entschied Nourina und fiel in einen Traum, in dem sie dabei zusah, wie der ehemalige Internatskumpel ebenfalls etwas hochschob, was kein goldenes Kleid gewesen war. Zumindest glitzerte nicht das im Traum auf, sondern etwas, das ihr zeitlebens zu krass gewesen war. Ein Junge, der sich an ihr verging, ohne sie jemals gefragt zu haben, was sie selbst eigentlich wollte oder jemals ersehnt hatte.

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